Westliches Geld + Ukrainisches Blut = Putins Niederlage

Peter Helmes

Es ist rund zehn Monate her, daß Russland seinen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Wir haben gelernt, daß die Bosheit und der Zynismus des russischen Angriffskriegs von uns Einigkeit verlangen. Das haben wir geschafft. Wir schicken Hilfe in die Ukraine und bestätigen gegenüber uns selbst und den Ukrainern, daß ihr Kampf um Freiheit auch unser Kampf ist.

Wir haben uns daran gewöhnen müssen, daß in Europa Krieg herrscht und daß er einen Preis hat – auch für uns. Aber der Krieg in der Ukraine hat auch unser Bewußtsein geschärft. Es geht letztlich um unsere Werte – und darum, den Zusammenhalt unter freiheitsliebenden Nationen zu stärken. Das haben wir jedenfalls erreicht. Und dies ist auch beim Besuch des ukrainischen Präsidenten in Washington bestärkt worden, wie man in seiner Rede vor dem Parlament hören konnte, die ein epochales Ereignis darstellte.

Die Zukunft ist ungewiss – wie dunkel sie wird, ist nicht vorhersehbar

Die Verflechtung der Welt bedeutet auch, daß Ereignisse in Übersee die persönliche Trübsal der Menschen verstärken oder aufhellen können. In den letzten Jahren gab es viele besorgniserregende Ereignisse in der Welt, von der Pandemie bis hin zu Katastrophen, Krieg und Terroranschlägen.

Was im nächsten Jahr geschieht, wird stark von den Ereignissen in Übersee abhängen, insbesondere davon, wie lange der Krieg in der Ukraine noch andauert. Der Krieg hat die Kosten für Treibstoff und Lebensmittel in die Höhe getrieben, nachdem die Pandemie zu Versorgungsengpässen geführt hatte, und der Konflikt wird die Inflation weiter anheizen. Viele Unbekannte liegen vor uns. Weihnachten ist eine Zeit, in der man aus der Gemeinschaft Kraft schöpft und ihr etwas zurückgibt – ein Geist, der auch im nächsten Jahr gefragt sein wird.

Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg um die Demokratie

Das sind große Worte, aber sie haben ihre Berechtigung. Auch wenn die Ukraine keine vollständige liberale Demokratie ist, war sie vor der Invasion weit auf diesem Weg vorangekommen. Das hat dem russischen Präsidenten Putin nie gefallen. Die Invasion muß auch als Versuch Putins betrachtet werden, die Ukraine daran zu hindern, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen.

In Washington erklärte der ukrainische Staatschef Selenskyj, russische Angriffe auf weitere Länder seien nur eine Frage der Zeit. Aber in mancher Hinsicht haben sie bereits begonnen. Die Energiekrise in Europa ist eine Folge von Russlands Gaskrieg. Internet-Trolle sorgen jeden Tag in sozialen Medien für Spaltung und Mißtrauen und verbreiten Propaganda. Deshalb müssen wir zusammenhalten und die Solidarität schützen, die Putin zerstören will.

Putin-Versteherkommen nur langsam in der Realität an

Immerhin hat dieses Jahr dazu geführt, daß sich innerhalb der Linken einige Kräfte stärker mit Putin und den Putin-Verstehern in den eigenen Reihen auseinandergesetzt haben. Niemand kann mehr behaupten, in Deutschland oder auch anderswo auf der Welt herrsche seither business as usual – siehe auch die schwedische NATO-Debatte. Pazifismus mag sich schön anfühlen, wenn die Welt als friedlich erlebt wird und der Westen völkerrechtswidrige Angriffe durchführt. Aber er ist keine realistische Haltung.

2022 ist zum Jahr geworden, in dem ein Großteil der Linken endlich die von Russland ausgehende Bedrohung verstanden hat, aber innerhalb der radikalen Rechten hat sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt – was aber nur noch eine Frage der Zeit sein dürfte.

Selenskyis epochale Rede

Selenskyjs Rede vor dem US-Kongreß wird in die Geschichte eingehen. Seine Appelle richteten sich nicht nur an den Kongreß und die Bürger in den USA, sondern an die ganze Welt. Von großer Bedeutung ist auch, daß seine Rede kurz vor Weihnachten stattfand und er an die US-Soldaten erinnerte, die Weihnachten 1944 gegen die Nazis kämpften. Selenskyj bekräftigte, daß die Ukraine nicht nur für sich, sondern für die Demokratie weltweit kämpfe.

Der Krieg in der Ukraine wird immer mehr zu einem globalen Kampf für die Demokratie mit Selenskyj im Zentrum. Mit seiner Reise in die USA hat der ukrainische Präsident erneut unter Beweis gestellt, daß er eine Persönlichkeit von historischer Größe ist, während Russland ausblutet.

Das Bild war die Botschaft. Und es war eins von Verbündeten, die angesichts der Herausforderung eines von Putin der Ukraine auferzwungenen Krieges zusammengeschweißt sind. Sie stehen Schulter an Schulter, während der Kremlchef zerstört und tötet, um vergeblich zu versuchen, das ukrainische Volk in die Knie zu zwingen.

Selenskyjs Besuch in Washington war voller Symbole. Allein schon, daß ihn seine erste Auslandsreise seit Kriegsbeginn in die USA führte und nicht etwa nach Brüssel. Zugleich war der Zeitpunkt des Besuchs in den letzten Tagen, in denen der Kongreß von den Demokraten geführt wird, aber auch sehr pragmatisch gewählt.

Wurde Selenskyj nur gehört oder wird man ihn erhören?

Erst die kommenden Monate werden zeigen, wie wirksam Selenskyjs Appell war. Bei der hauchdünnen Mehrheit, die die Republikaner im Abgeordnetenhaus haben, hat auch die relativ kleine Gruppe von Gegnern weiterer Ukraine-Hilfen ein großes Erpressungspotenzial.

Selenskyj betonte in den USA, daß die Unterstützung der Ukraine eine Investition in die Weltdemokratie und keine Wohltätigkeitsveranstaltung sei. Wie lange die Faszination für das ukrainische Heldentum im Ausland anhalten wird, ist allerdings fraglich. Aber die Tatsache, daß die Ukraine nach so vielen Kriegsmonaten immer noch die Herzen der Amerikaner erobert – trotz der hohen Preise und des schwächeren Wirtschaftswachstums in den Vereinigten Staaten – ist für Putin schon eine empfindliche Niederlage.

Die zentrale Botschaft in Washington lautete: Die Ukraine wird sich Russland nicht ergeben und der Kreml wird seine Kriegsziele nicht erreichen.

Ein Frieden mit Russland zeichnet sich nicht ab. Im Gegenteil. Offenbar soll der Krieg in die Länge gezogen werden, um Russland nach militärischen Niederlagen an den Verhandlungstisch zu zwingen. Der wichtigste Hinweis dafür ist die Lieferung von Patriot-Luftabwehrraketen aus den USA. Zweifellos wird dieser Krieg immer mehr zwischen Russland und den USA geführt.

Der zweite Churchill-Moment

Selenskyjs Besuch weckt sofort Assoziationen zu den Bildern des britischen Premiers Churchill, der mitten im Zweiten Weltkrieg und wenige Tage nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor nach Washington reiste, um sich die Hilfe der USA zu sichern. Selenskyj hat genau gewußt, daß es an der Zeit war, das Schlachtfeld zu verlassen und nach Washington zu reisen.

Der USA-Besuch war schon der zweite ‚Churchill-Moment‘ des ukrainischen Präsidenten. Der erste war der, als ihm die USA bei Ausbruch des Krieges Hilfe für eine Flucht aus Kiew anboten. Er lehnte jedoch ab und forderte stattdessen Munition. Und diesmal jubelte der Kongreß über seine Erklärung, sich niemals zu ergeben.

Abgesehen von den mitreißenden Beifallsbekundungen für den mutigen ukrainischen Präsidenten scheint der Kriegsgipfel in Washington mit einer Kluft zwischen den beiden Verbündeten über ihre Strategien zur Beendigung des Krieges geendet zu haben. Selenskyj benutzte das Wort ‚Sieg‘ elfmal in seiner Rede, US- Präsident Biden bezeichnenderweise kein einziges Mal.

Die Vermeidung eines direkten Konflikts zwischen den Vereinigten Staaten und Russland bei gleichzeitiger Unterstützung der Ukraine ist eines der zentralen Ziele des Präsidenten. Irgendwann im nächsten Jahr muß es mehr Klarheit und Übereinstimmung darüber geben, wie ein ukrainischer Erfolg aussehen könnte, der nicht mit einem ‚absoluten Sieg‘ über Russland gleichzusetzen ist

Die Einladung Selenskyjs nach Washington darf jedoch als Versicherung und warnende Grüße nach Moskau gewertet werden, daß die USA ihre Solidarität so lange aufrechterhalten werden, wie die Ukraine sie benötigt. Das Kalkül des Westens, daß Putin seine Drohung mit Atomwaffen nicht wahr machen wird, hat sich ebenfalls bewahrheitet. Europa sollte sich in diesem Fall ein Beispiel an den USA nehmen und nicht nachlassen bei der Unterstützung der Nachbarn.

Demokratie oder Autoritarismus – Es gibt kein Zwischending

Längst ist der Angriffskrieg Russlands zur systemischen Auseinandersetzung zwischen Autoritarismus und Demokratie geworden. Der Besuch Selenskyjs in den USA ist Symbol dieser Auseinandersetzung. Die Schwäche Putins ist nicht nur eine gute Nachricht. Sie macht diesen Krieg erst recht unberechenbar. Niemand weiß, zu welchen Mitteln der Kremlherrscher als nächstes greift. Aktuell nutzt er Belarus als Aufmarschgebiet – eine weitere Bedrohung für die Ukraine.

Nach zehn Monaten Krieg ist der Griff um den Hals der Ukraine nicht fester, sondern schwächer geworden. Und ganz nebenbei stiehlt Selenskyj mit der Aktion Putin auch noch die Show bei dessen zeitgleicher Sitzung mit der russischen Militärführung. Auch für Europa und Deutschland enthält der Flug über den Atlantik übrigens eine deutliche Nachricht: In Washington und nicht in Brüssel oder Berlin sitzen die wichtigsten Unterstützer der Ukraine.

Für Biden wäre es theoretisch möglich, Einfluß auf Selenskyj zu nehmen und ihn zu ernsthaften Verhandlungen zu drängen. Doch der US-Präsident hofft noch, daß Russland militärisch in die Knie gezwungen werden kann. Selbst wenn er seine Meinung ändern sollte, bliebe ein Problem ungelöst: Es gibt zurzeit niemanden auf der Welt, der auch Putin zur Vernunft bringen kann.

Du bist nicht unser Meister, Wladimir!

Selenskyjs Botschaft an Russlands Präsident Wladimir Putin ist mehr als deutlich: Du hast keine Macht über mich, meine Bewegungsfreiheit und auch nicht über mein Land.

Im Klartext: Der Besuch ist eine Botschaft an Russlands Diktator Wladimir Putin, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt: Der Westen und die Führungsmacht USA werden mit ihrer Unterstützung für die Ukraine mit Geld und Waffen nicht nachlassen. Sie werden durchhalten, bis Putin und seiner Armee die Puste ausgeht. Deshalb sind die weiteren Waffenlieferungen der USA an die Ukraine begrüßenswert.

Da es sich beim ‚Patriot‘-System um ein ausgesprochenes Verteidigungssystem handelt, gibt es keinen Grund, es der Ukraine vorzuenthalten. Deshalb ist es vernünftig, daß Biden es seinem Gast vor dem Mehrheitswechsel im Kongreß zugesagt hat. Und Selenskyj ist der richtige Empfänger. Er verkörpert den Mut seines Volkes, das nicht nur die eigene Freiheit verteidigt.

Auch die USA haben lange gezögert

Zur Wahrheit gehört, daß das Patriot-Luftabwehrsystem schon vor Monaten hätte angeboten werden sollen, und daß es Wochen dauern wird, bis es einsatzbereit ist. Biden wird auch nicht auf die Bitten der Ukraine um neue Superdrohnen oder die neueste Raketentechnologie eingehen, weil er befürchtet, daß diese in feindliche Hände fallen könnten.

Nichtsdestotrotz: Noch vor zehn Monaten hatten die USA angeboten, Selenskyj vor einer wahrscheinlichen Niederlage in Sicherheit zu bringen. Jetzt hingegen planen sie, wie die Ukraine jedwede neue russische Offensive abwehren und sogar gewinnen kann.

Ein neues Paket von 44,9 Milliarden Dollar an wirtschaftlicher und militärischer Hilfe, das in das vom Kongreß zu verabschiedende Haushaltsgesetz aufgenommen wurde, wird die gesamte US-Unterstützung seit Beginn des Krieges auf 110 Milliarden Dollar bringen. So massiv diese Unterstützung auch ist, sie deckt weder alles ab, was Selenskyj will, noch alles, was er und sein Volk brauchen. Die Symbolik, fortschrittliche Patriots bereitzustellen – trotz russischer Warnungen, daß dies eine Provokation wäre und des früheren Zögerns der US-Regierung – sollte nicht unterschätzt werden. Doch auch die praktische Wirkung einer einzigen Batterie sollte nicht überschätzt werden.

Hätte Trump die Ukraine an Putin “verkauft”?

Die weitere Milliardenhilfe verdeutlicht, daß es nach zwei Weltkriegen und den Jugoslawienkriegen einmal mehr die Amerikaner sind, die in Europa die Kohlen aus dem Feuer holen. Daß sie Putins Barbarei nicht einfach zuschauen, ist keineswegs selbstverständlich – säße heute noch immer der Kreml-Bewunderer Trump im Weißen Haus, wäre Amerika kaum eine verläßliche Stütze der Ukrainer.

So hat der Besuch Selenskyjs in Washington auch eine symbolische Bedeutung: Moskau soll die Botschaft verstehen, daß die US-Amerikaner ihre Waffenlieferung an Kiew in erheblichem Umfang erweitern und die Landesverteidigung der Ukrainer immer enger an die Nato heranrücken. Mit dem modernsten Patriot-Luftabwehrsystem, das die USA je einem Drittstaat zur Verfügung stellen, wird die Ukraine ihre Infrastruktur wesentlich besser vor russischen Angriffen schützen können. Bloß den Krieg beenden werden auch diese Waffen nicht. Dazu fehlt auf beiden Seiten der politische Wille.

Anders ausgedrückt heißt Selenskyjs Rede: Ohne Unterstützung aus den USA wäre die Ukraine längst gefallen. Spätestens ab jetzt liegt der Ball bei der Regierung in Washington. Wie die künftigen Beziehungen der USA zur Weltgemeinschaft aussehen, wird dadurch entschieden, wie weit die Vereinigten Staaten die Ukraine unterstützen.

Für Putin lief es von Beginn an in die falsche Richtung

Fakt ist jedenfalls, daß Putin mit seinem Angriffskrieg nicht Russland, sondern die USA und die NATO stärker gemacht hat. Die Formel ist einfach: Westliches Geld + ukrainisches Blut = Putins Niederlage. Wann der Krieg zu Ende geht, weiß niemand. Die Auswirkungen wird man noch jahrelang spüren. Wie es mit Putin weitergeht, weiß auch niemand. Daß alles dafür getan wird, daß er vor ein Kriegsverbrechergericht kommt, das steht schon fest. Wie lange soll diese Tyrannei weitergehen?

Bidens Botschaft an Selenskyj war klar: Die USA werden sich zwar nicht aktiv an einem Krieg gegen Russland beteiligen, aber sie werden auch nicht von ihrem Versprechen abrücken, das ukrainische Volk zu unterstützen.

Selenskyj befürchtet eine neue russische Großoffensive im kommenden Jahr, auch wenn Putin inzwischen selbst zugibt, daß die Lage für Russland schwierig ist. Es ist offensichtlich, daß  man im Kreml über die Entwicklung des Kriegs besorgt ist. Putin versucht, von seiner Unfähigkeit abzulenken, einen Sieg herbeizuführen, und er verspricht eine weitere Aufrüstung. Russland setzt auf sein Militär, die Ukraine leistet weiter Widerstand, und der Westen unterstützt Kiew – das alles läßt einen harten Winter und einen lang andauernden Krieg befürchten.

Die kommenden Monate – der Winter und das Frühjahr – werden ausschlaggebend für die weitere Entwicklung des Krieges sein. Ob man schon nächstes Jahr von einem gewissen Sieg sprechen kann oder ob sich der Krieg auf unbestimmte Zeit hinziehen wird, hängt letztendlich davon ab, ob die ukrainischen Streitkräfte über genügend Waffen verfügen werden.

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