Peter Helmes
Nachdem sich die westlichen Verbündeten gerade erst über die Lieferung von Kampfpanzern geeinigt haben, ist nun auch von Kampfflugzeugen und U-Booten die Rede. Das könnte in Deutschland zu einer ähnlichen Debatte führen wie beim Leopard-Panzer, zumal der britische Premier Rishi Sunak Präsident Selenskyj bei dessen gestrigen Überraschungsbesuch in London zumindest Flugzeuge in Aussicht stellte und dieses Thema zudem beim heutigen EU-Gipfel, an dem der ukrainische Präsident zeitweise teilnehmen wird, erneut auf der Tagesordnung stehen dürfte.
Polen will die Lieferung alter MiG-Jäger aus sowjetischer Produktion nicht ausschließen, aber auch hier muß Deutschland grünes Licht geben, weil die Flugzeuge aus alten DDR-Beständen stammen. Die Debatte zeigt, wie weit sich der Westen innerhalb eines Jahres bewegt hat.
Wo liegen Putins rote Linien?
Gleichzeitig bleibt die Frage, wo Putins rote Linien verlaufen und welche weiteren Optionen ihm überhaupt bleiben, wenn man einmal vom Einsatz von Atomwaffen absieht. Es ist erfreulich, daß der Westen nun auch zur Lieferung schwerer Waffen bereit ist, aber niemand sollte sich unrealistische Hoffnungen machen. Bis die Panzer kampfbereit und mit ausgebildetem ukrainischem Personal besetzt sind, werden noch Monate vergehen.
Die Geographie des gegenwärtigen Konflikts und die Lage des Schwerpunkts der Verteidigungsanstrengungen der USA, der NATO und der Europäischen Union bedeuten, daß Polen die kommenden Jahre ‚bevorzugt‘ werden wird. Polen ist die ‚Speerspitze‘, die geographische, logistische und politische Drehscheibe der Aktivitäten. Exponiert, wichtig, aber nicht in der Lage, ohne entsprechende Infrastruktur und Unterstützung zu existieren. Das Hinterland Polens bleibt in der US-amerikanischen Europa-Strategie.
Das Problem ist, daß dieser Krieg Fragen aufwirft, auf die die europäischen Politiker keine gemeinsame Antwort haben. Ist es an der Zeit, die Europäische Verteidigungsagentur mit mehr Mitteln und Befugnissen auszustatten, um die kollektiven Anstrengungen Europas zur Herstellung von Waffen zu verstärken? Um diese Entscheidungen zu treffen, bedarf es einer starken Führung. Deutschland ist heute nicht in der Lage, dies zu leisten, und Länder wie Polen wollen keine Stärkung der europäischen Kommandozentrale.
Zum EU-Beitrittswunsch: Rechtsstaatlichkeit ist unerläßlich
Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Makeiev, hofft nach dem EU-Ukraine-Gipfel in Kiew auf eine Aufnahme seines Landes in die Europäische Union. Die Botschaft dieses Tages sei eindeutig, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Die Ukraine wird EU-Mitglied.“ Sein Land werde alles dafür tun, den Beitrittsprozeß so schnell wie möglich abzuschließen.
Im Europäischen Parlament sind die Erwartungen an einen raschen EU-Beitritt der Ukraine allerdings gedämpft worden. Vizepräsidentin Barley betonte im ARD-Fernsehen, für das Land würden die gleichen Bedingungen gelten wie für alle anderen Beitrittskandidaten.
Auf und vor allem nach dem EU-Gipfel in Kiew ist in aller Deutlichkeit vorweg klarzumachen: Ein Land, das Mitglied der EU werden will, muß erstens eine stabile Demokratie sein, zweitens über einen funktionierenden Rechtsstaat verfügen und drittens eine konkurrenzfähige Marktwirtschaft haben. Von diesen drei Kriterien erfüllt die Ukraine allenfalls das erste. Wenn es der EU ernst ist mit der Ukraine, muß sie geopolitische Weitsicht beweisen, ohne ihre Beitrittskriterien zu verraten. Das geht nur, wenn der Integrationsprozeß in Etappen verläuft.
Kampf gegen die Korruption
Selbst wenn ´mal wieder Frieden herrschen sollte: Die Ukraine hat eine lange Liste an Beitrittskriterien abzuarbeiten. Die jüngsten Korruptionsfälle sind ein Hinweis darauf, wie viel substanzielle Arbeit es gibt. Kiew geht diese Arbeit an – mitten im Krieg. Das ist der Regierung hoch anzurechnen. Wann die Arbeit mit dem Beitritt belohnt wird, muß aber nachvollziehbaren Kriterien folgen. Alles andere wäre nicht nur den anderen Kandidatenländern gegenüber ungerecht. Ein beschleunigtes Verfahren wäre aber das falsche Signal an andere Kandidaten, die schon seit zehn oder 15 Jahren auf ihren Beitritt warten. Wenn die ukrainische Regierung Beitrittsverhandlungen noch in diesem Jahr verlangt, weckt sie falsche Erwartungen.
Kernproblem Putin
Das Kernproblem ist nach wie vor der Umgang mit bzw. die westliche Reaktion auf Putins Aggression, die auch innerhalb seines Landes für zunehmenden Druck sorgt. Als lupenreiner Autokrat weiß Putin genau, daß westlicher Einfluß gefährlich für die absolute Kontrolle über sein Volk ist und daß er um jeden Preis bekämpft werden muß. Putin ist nicht nur eine Gefahr für die Freiheit der Ukrainer, sondern für ganz Europa. Es gibt im Westen Kreise, die zu russischen Verbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung schweigen und zugleich fordern, die Ukraine solle von Putin beanspruchte Gebiete im Austausch für Frieden abgeben. Es sind dieselben, die glauben, daß das Münchener Abkommen von 1938 ein Pakt war, um die Nazis zu stoppen. Eine richtig verstandene Politik der Beschwichtigung bedeutet aber heute, Putin nicht nachzugeben.
Beim Gedenktag in Wolgograd zum 80. Jahrestag der deutschen Kapitulation in Stalingrad wiederholte Putin wieder einmal seine abstrusen Beschuldigungen gegen den Westen. Es war wenig überraschend, daß der Kremlherrscher ausgerechnet dieses Datum für eine Propagandashow nutzte. Zur Feier des Tages erhielt die Stadt, die heute Wolgograd heißt, vorübergehend sogar ihren alten Namen zurück. Schlimmer noch als das Retuschieren und Schönfärben sind die offenen Geschichtslügen, die in Putins Russland längst Allgemeingut geworden sind. Sie gipfeln in der falschen These, die Ukraine als Nation mit eigener Kultur, Sprache und Geschichte gebe es nicht. Mit dieser Geschichtsklitterung ebnete Putin bekanntlich den Weg zum Überfall auf das Land vor einem Jahr.
Doch damit nicht genug. Er erklärte den jüdischen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, und einen Großteil seiner Landsleute zu Neonazis. In ähnlicher Weise ließ Putin es sich bei seinem Stalingrad-Auftritt nicht nehmen, Deutschland frontal anzugreifen. Wie einst die Panzer der Wehrmacht, so bedrohe nun der ‚Leopard 2‘ Russland. Eine dreiste Verkehrung der Tatsachen.
Stalins Geist ist wieder außerhalb der Flasche
Die Magdeburger Volksstimme schreibt dazu in einem treffenden Kommentar:
In Wolgograd haben sie Stalin als Denkmal und ‚Stalingrad‘ als Ortsschild zurück. Der Geist des roten Diktators ist damit ganz und gar aus der Flasche gelassen worden. Die auf Stalin folgenden Sowjetführer hatten versucht, seinen bösen Fluch einzufangen. Aber nur halbherzig und deshalb vergeblich. Nachdem Kremlchef Wladimir Putin den letzten Hauch von Demokratie in Russland verblasen hat, wird der Mythos Stalin reaktiviert. Nicht der des Massenschlächters, versteht sich, sondern der des siegreichen Feldherrn in Stalingrad und später im Zweiten Weltkrieg überhaupt. Ein Sieg, für den Stalin über unzählige Leichen der eigenen Leute ging. Früher waren die Invasoren aus Nazideutschland der Gegner. Heute sind die Russen selbst die Aggressoren in der Ukraine. Über allem aber schwebt Stalins Geist: Das Wort des Kremlherrn ist Gesetz…
Die FAZ wird noch deutlicher und ist der Meinung, der russische Präsident Putin betrachte Krieg nicht als Versagen von Politik,
sondern als ein bewährtes Mittel zum Zweck: Wiedererrichtung des russischen Imperiums. Der Alleinherrscher im Kreml führt diesen Feldzug unter der Fahne des Kampfes gegen Hitlerdeutschland, vor der sich alle Russen verbeugen. Putin jedoch tritt sie in den Schmutz seiner großen Lüge, in der Ukraine müsse ‚der Nazismus in einem modernen Antlitz‘ beseitigt werden, der eine Gefahr für Russland darstelle. Entsprechend erklärt Putin auch die Panzer, die Berlin den überfallenen Ukrainern zur Verteidigung liefert, zu einer neuerlichen Bedrohung für Russland. Goebbels hätte das alles nicht besser verdrehen können. Die Gefahren, die Putin in der Ukraine und in seiner ganzen Nachbarschaft ausmerzen will, heißen Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte. Das sind nicht Bedrohungen für das russische Volk, sondern für Putins Diktatur.