Peter Helmes
Mit der geplanten Justizreform droht Premierminister Benjamin Netanjahu, die Demokratie in Israel auszuhöhlen. Vorerst hat er die Reformpläne gestoppt, was aber nichts an dem stramm rechten Kurs ändert, den Netanjahu dem Land verpaßt.
Die Justizreform ist nur ein, aber ein großer Teil des angestrebten Umbaus des israelischen Staates, die Netanjahu in seiner Amtszeit angehen will. So hat er, wie im Koalitionsvertrag festgehalten, den jüdischen Anspruch auf das gesamte Land erhoben und somit auch die Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete. Oberste Priorität soll der Siedlungsausbau bekommen, und zwar auch in den Gebieten, die für den künftigen palästinensischen Staat vorgesehen sind. Außerdem ist es das Bestreben Netanjahus, den Einfluß der religiösen Institutionen auf das öffentliche Leben zu erweitern.
Nach fast jeder Wahl hat sich Israels Gesellschaft weiter gepalten
Es ist ein bedrückendes Szenario: Die Staatskrise der Stunde findet derzeit in Israel statt, wo – nach den größten Massendemonstrationen in der Geschichte des Landes, einem Generalstreik, der Dienstverweigerung Hunderter Militärreservisten und einem Proteststurm aus der Wirtschaft – Skandalpremier Benjamin Netanjahu versucht hat, die Pausentaste zu drücken. Eine „Justizreform“, wie seine Koalition es nennt, beziehungsweise der „Weg in die Diktatur“, wie die wütenden Protestierer das Vorhaben einstufen, liegt nun für einige Wochen auf Eis. Es ist der Versuch eines Waffenstillstands, nachdem Netanjahus Position unhaltbar geworden ist.
Mit der aktuellen Pause bei der Umsetzung der Reformpläne ist jedoch noch nicht geklärt, ob Netanjahu auch inhaltliche Zugeständnisse machen wird oder nur auf Zeit spielt. So wird Justizminister Jariv Levin in israelischen Medien mit den Worten zitiert:
Wir müssen smart sein, wir bringen die Reform später durch.
Die Kritiker der Regierung befürchten, daß von den Plänen nichts gekippt wird.
Seit Wochen gehen Hunderttausende Menschen in Israel auf die Straße. Den Grund dafür hatte Justizminister Jariv Levin geliefert, als er im Januar die neue Justizreform vorstellte. Kurz zuvor war die neue rechts-religiöse Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vereidigt worden. Netanjahu gewann bei den Wahlen im November 2022 unerwartet hoch, er bildet seitdem die am weitesten rechts stehende Regierung der israelischen Geschichte. Die ultranationalistischen und ultraorthodoxen Mitglieder der Regierung sind sich nicht in allem einig, wohl aber über ein Ziel: die israelische Justiz zu schwächen und die Kontrolle der Regierung über Gerichte und Beamte zu verstärken.
Radikale Ziele der Netanjahu-Regierung
Der geplante Umbau des israelischen Rechtssystems zielt vor allem darauf ab, die Kontrolle der Knesset durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit abzuschaffen. Bisher überprüfte der Oberste Gerichtshof die Rechtmäßigkeit von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen. Künftig soll das Parlament das Recht haben, Entscheidungen der Obersten Richter mit einfacher Mehrheit zu überstimmen. Damit könnte die Regierung Gesetze durchsetzen, die höchstrichterlich abgelehnt wurden.
Für Yaniv Roznai z.B., Experte für Verfassungsrecht, bedeutet die Reform etwa die Zerstörung jeder wirksamen richterlichen Kontrolle. der NZZ gegenüber sdagte er:
Es ist eine krasse Untertreibung, dieses Gesetzespaket eine Reform zu nennen. Es läuft auf einen radikalen Paradigmenwechsel hinaus und würde die Exekutive mit absoluter Macht ausstatten.
Rechtsextreme und ultraorthodoxe Parteien steuern die Hälfte der Parlamentssitze bei, mit deren Hilfe sich Premier Netanjahu an seinen Amtssessel klammert. Noch nie wurde Israel von einem so radikalen Kabinett regiert. Die Extremisten wittern ihre historische Chance. Es empfiehlt sich, ihr Vorgehen auch aus der Ferne mit Argusaugen zu beobachten. Denn in Israel sind die Attacken derer, die den Staat radikal umbauen wollen, weiter fortgeschritten als in anderen gefährdeten Demokratien. Rechts- und Links-Populisten weltweit kupfern erfolgreiche Rezepte voneinander ab. Das, womit sie in Israel ihre Agenda voranbringen, wird später auch anderswo auftauchen. Wie also verläuft die Schlacht?
Die Zerstörung einer unabhängigen Justiz gehört weltweit zu den Plänen radikaler Polit-Aktivisten. Insofern sehen wir in Israel ein vertrautes Bild: Rückbau der unabhängigen Justiz, Besetzung der höchsten Richterämter nach dem Geschmack der Regierenden. Das kennen wir aus Polen und Ungarn und natürlich vom Ex-Präsidentenhallodri Trump. In Israel haben die Radikalen in Premier Netanjahu einen natürlichen Verbündeten gefunden.
Er führt schon seit Jahren eine Privatfehde gegen Staatsanwälte und Gerichte, die ihn wegen Korruption anklagen wollen. Nur weil der Großteil der israelischen Gesellschaft auf die Barrikaden gegangen ist, muß der Plan, die Justiz anzuleinen, noch etwas auf seine Vollendung warten – aufgeschoben, aber nicht aufgehoben.
Neue „Nationalgarde“ – Miliz im Dienst eines Rechtsradikalen
Aber das ist nicht alles. Daß der belagerte Premier angesichts des Protests eingeknickt ist, haben seine extremistischen Freunde ihm übelgenommen. Damit sie ihm nicht von der Fahne gehen, hat Netanjahu dem Minister Ben-Gvir deshalb ein besorgniserregendes Geschenk gemacht: die Erlaubnis zum Aufbau einer „Nationalgarde“. Sie soll als persönliche Eingreiftruppe des Ministers für Ordnung sorgen – oder für das, was ein Mann mit seiner Vergangenheit unter Ordnung versteht. Selbst in der Polizei sorgt man sich jetzt, daß eine gefährliche Parallelstruktur entsteht: eine Miliz im Dienst eines Rechtsradikalen.
Vertreter der Palästinenser und der israelischen Araber befürchten das Schlimmste. Eine Menschenrechtsorganisation spricht von „Ben-Gvirs Revolutionswächtern“. Im Drehbuch der Rechtspopulisten ist das ein neuer Akt. Eine Privatarmee unter ihrer Kontrolle, die in staatliche Strukturen integriert ist – das kannten wir bisher eher aus Diktaturen in Afrika.
Aus Israel erreicht uns aber auch eine Botschaft, die unserer demokratischen Seele guttut. Denn wir können dort beobachten, was passiert, wenn die Mehrheit der Menschen zu dem Schluß kommt, daß die Grenze erreicht ist. Quer durch soziale Schichten, Berufe und Karrieren sind die Leute auf die Straße gegangen, viele zum ersten Mal.
Reservisten der Armee als Zünglein an der Waage
Der Gegenangriff der Zivilgesellschaft kam aus unerwarteter Richtung: Reservisten aus Eliteeinheiten der israelischen Armee haben den Protest angeführt, ehemalige Oberkommandierende mischten sich unter die Demonstranten, Ex-Chefs der Geheimdienste warnten öffentlich vor dem Abgleiten in eine rechte Diktatur. Gewerkschaften und Arbeitgeber sind auf den Barrikaden. Das Kräftemessen ist in vollem Gang. Die Unabhängigkeit der Justiz ist noch nicht weg vom Fenster, die Demokratie auch nicht. Vielleicht sind es stattdessen bald ihre Feinde. Hoffen wir’s! – Es gibt jedoch keinen Grund für Erleichterung. Der Angriff von Ministerpräsident Netanjahu auf die demokratischen Institutionen Israels ist nicht vorbei, sondern nur auf Eis gelegt.
Nach fast drei Monaten politischer Krise, Empörung in der Bevölkerung und zunehmenden Protesten war der Premierminister gezwungen, seine Attacke auf die Justiz auszusetzen. Mit seinem Vorgehen gegen die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs, das von den meisten Israelis abgelehnt wurde, hat er der Wirtschaft und dem Staat bereits schweren Schaden zugefügt. Netanjahu sagt zwar, er wolle die Nation nicht in zwei Hälften reißen. In erster Linie geht es ihm aber nicht darum, das Land zu retten, sondern sich selbst.
Netanjahu verfolgt mit seinem Projekt nicht etwa das Ziel, institutionelle Probleme zu beseitigen. Sein Motiv ist viel weniger nobel; denn gegen ihn laufen Korruptionsverfahren, und deshalb wollte er den Obersten Gerichtshof ausschalten – ein Ziel, das auch seine ultrareligiösen und nationalistischen Koalitionspartner verfolgen. Am Ende war es ein massiver Streik, der Netanjahu zum Einlenken zwang.
Bündnis mit radikalen Partnern
Kein Premier hat Israel länger regiert als er, und er hat sich immer als ausgleichendes Moment zwischen unterschiedlichen Interessen und Ideologien präsentiert. Aber seine dritte Amtszeit erkaufte er sich durch ein Bündnis mit radikalen Partnern. Für eine Rettung der israelischen Demokratie spricht er jetzt mit der Opposition. Die Alternative wäre eine Entwicklung wie in Ungarn, Polen oder Venezuela.
Aber man darf sich nichts vormachen. Der israelische Ministerpräsident hat keinen Rückzieher gemacht. Er hat lediglich bis Ende April Zeit gewonnen, um die Reihen seiner Koalitionsregierung neu zu formieren und zu versuchen, den Widerstand auf der Straße zu verringern. Die Lösung seiner persönlichen juristischen Probleme im Zusammenhang mit Korruption und Machtmißbrauch spielt in dem ganzen Plan eine nicht geringe Rolle. Es wäre naiv zu glauben, Netanjahu habe plötzlich begriffen, daß er auch für die andere Hälfte Israels regiert, die auf der Straße gezeigt hat, daß demokratische Grundsätze nicht verhandelbar sind. Sein Projekt ist heute die größte Gefahr für die Demokratie in Israel.
Eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung ist gegen die Justizreform ist, und auf den Straßen demonstriert eine bunte Regenbogenkoalition aus Start-up-Gründern, Homosexuellen, Reservisten und Gewerkschaften. Vor allem aber sind es Bürger, die Angst um die Demokratie und die Zukunft Israels haben.
Die extreme Rechte ist bereit zum Kampf gegen Demonstranten
Inzwischen ist die Lage explosiv. Rechtsextremisten haben bereits zur Gewalt gegen Demonstranten aufgerufen, zumal Sicherheitsminister Ben-Gvir die Erlaubnis erhalten hat, seine eigene zivile Nationalgarde zu errichten. Noch fällt es schwer zu glauben, daß Israelis gegeneinander zu den Waffen greifen. Aber es ruht eine enorme Verantwortung auf Netanjahu, die Pause in dem Gesetzgebungsprozeß für einen Ausweg aus der Krise zu nutzen.
Es ist bemerkenswert, daß ein so gewiefter Politiker wie Netanjahu keinen einfachen Ausweg aus dem Labyrinth findet, in das er sich selbst begeben hat. Zwar ruht das Verfahren nun über die Feiertage, doch dann soll das Thema wieder aufgegriffen werden. Zieht Netanjahu die Reform zurück, werden seine radikalen Partner die Koalition verlassen und Neuwahlen erzwingen. Hält er dagegen an dem Projekt fest, wird es erneute Proteste geben. Aber der große Verlierer wäre in beiden Fällen niemand anderes als Netanjahu.
Es tobt ein gnadenloser Wertekampf zwischen zwei gleich großen Gruppen
Sie stehen sich erbittert gegenüber, sowohl aktuell bei der Justizreform als auch beim grundlegenden Blick auf Netanjahu. Israels harter Kampf mit sich selbst endet nicht mit dem Kampf um die Justizreform. Er hat gerade erst begonnen.
Was das Vorhaben Netanjahus so brisant macht, ist, daß er die Macht eines Gerichts einschränken will, das viele der säkularen Juden und arabischen Bürger Israels als Bollwerk gegen die demographisch und politisch aufsteigenden ultrareligiösen und nationalistischen Gruppen ihrer Gesellschaft sehen. Angesichts der Überzeugung der religiösen Rechten, daß das von säkularen Juden dominierte Gericht aufgrund der eigenen politischen Präferenzen wiederholt gegen sie entschieden hat, ist nicht klar, wie ein Konsens gebildet werden kann – gerade wegen des Einflusses, den die religiöse Rechte in Netanjahus Koalition hat. Was Israel wirklich braucht, ist eine geschriebene Verfassung.
Wichtige Rolle der Palästinenser
Für manche Experten kann die Krise nur durch die Einbeziehung der knapp sieben Millionen in den von Israel kontrollierten Gebieten lebenden Palästinenser überwunden werden. Zwar spielten bei den Protesten die Rechte der Palästinenser keine Rolle. Doch das könnte sich ändern. Ein Bündnis mit den Arabern könnte die Rettung für das Land und die Demokratie sein. Doch die Hürden dafür sind sehr hoch. Die Israelis werden auf die Idee eines Judenstaates nicht verzichten. Und ob die Israelis einen Einheitsstaat akzeptieren werden, steht ebenfalls nicht fest. Auch eine Garantie, daß die Palästinenser nicht mehr diskriminiert werden, gibt es nicht.
Millionen Palästinenser leben de facto unter israelischer militärischer Kontrolle in einem rechtlosen Zustand. Das nährt selbstverständlich Zweifel am Niveau der israelischen Demokratie. Die jüngste Äußerung von Finanzminister Smotrich, daß es kein palästinensisches Volk gebe, goß da noch Öl ins Feuer. Alle Gegensätze und Kontroversen in der dortigen Gesellschaft kommen nun an die Oberfläche. Israel befindet sich möglicherweise an einem kritischen Punkt seiner Existenz. Es bleibt mit Spannung, wie es mit der einzigen Demokratie in Nahost weiter geht. Ein eventueller Kollaps des Staates hätte weitreichende Folgen.