Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist*)
Nach einigen politischen und technisch bedingten Verzögerungen auf der Seite der Ukraine und ihrer Verbündeten sowie dem schlechten Wetter, dass die Bewegungen von schweren gepanzerten Fahrzeugen stark eingeschränkt hat – auf beiden Seiten.
Es wird sich bereits in wenigen Wochen zeigen, welche Seite von den Verzögerungen am meisten profitieren kann:
Dissonanzen in der Führung der russischen Truppen
Seit Wochen gibt es ernsthaften Streit in der russischen Führung. Auf der einen Seite ist es Putin, der den Kämpfern der Wagnertruppe unter Führung von Prigoschin die benötigte Munition für den Kampf in der Ukraine zunächst verweigert, nun zugesagt aber noch lange nicht geliefert hat. Die Wagnertruppe, die für brutale Kriegsführung nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Afrika berüchtigt ist, wird von Putin „benachteiligt“. Putin hat weitere Söldnertruppen aufstellen lassen, um die Wagnertruppe in ihrer Bedeutung zu reduzieren.
Prigoschin, der bei den russischen Kämpfern ein hohes Ansehen hat, lässt in jüngster Zeit erkennen, dass er auch politische Ambitionen hat. Seine Kritik an Putins Kriegsführung wird schärfer. Eine Versöhnung zwischen Putin und ihm erscheint wenig wahrscheinlich. Ohne eine zusammenhängende Verteidigungslinie im Raum um Bachmut würde ein Durchbruch der ukrainischen Stoßkräfte nach Süden erleichtert.
Der russischen Armee Profis in Führung und Fußvolk
Noch profitieren die russischen Angriffskräfte von der großen Überlegenheit russischer Artilleriekräfte. Dazu kommen die Drohnen aus dem Iran, die in großer Zahl von den russischen Streitkräften gekauft wurden, die sehr effizient sind – besonders die „Kamikaze“-Drohnen, die sich aus der Höhe auf die schwächere Panzerung stürzen und diese zerstören.
Die Schwäche der russischen Streitkräfte bleibt der Ausbildungsstand der Führer und der Soldaten. Tausende einfacher Soldaten kommen aus entlegenen und ärmeren Regionen Russland – wenige aus Moskau und St. Petersburg.
Viele dieser einfachen Soldaten versuchen, ihre Kriegsangst durch Alkoholmissbrauch zu überwinden. Etliche sterben durch Fehler in der Bedienung der Bewaffnung und der Munition. Sie werden häufig auch krank durch die Kälte und Feuchtigkeit in ihren Schützengräben. Es gibt auch Berichte, dass diese einfachen Soldaten, die nicht kämpfen wollen, von eigenen höheren Dienstgraden erschossen werden, wenn sie desertieren wollen.
Die Leistungen der ukrainischen Soldaten
Die Leistungen der ukrainischen Soldaten werden getragen von einem beispiellosen Verteidigungs- und Behauptungswillen der gesamten Bevölkerung – inklusive vieler Frauen. Ihre politischen und militärischen Führer sind sehr gut ausgebildet und an modernen Waffensystemen geschult– auch der westlichen Unterstützerstaaten. Sie sind Vorbilder ihrer Soldaten.
Das gilt besonders für den ukrainische Präsidenten Selenskyj, der trotz seiner Gefährdung in Kiew verblieben und öffentlich präsent ist. Im Gegensatz zu Präsident Putin, von dem nur wenigen Ukrainern bekannt ist, in welchem seiner zahlreichen Bunker und Verstecke er sich gerade befindet. Öffentliche Auftritte werden reduziert. Es soll Doubles geben, die ihn bei öffentlichen Auftritten vertreten.
Die ukrainischen Streitkräfte haben Pausen im Gefecht zur persönlichen Regeneration, zu weiteren Schulungen, zu kleintaktischen Übungen sowie zur Ausbildung an der modernen Ausrüstung, die zu einem großen Teil bereits in den Geberländern begonnen hat. Ein besonderer Fortschritt in Ausrüstung und Ausbildung sind die Kampfdrohnen und die taktischen Aufklärungssysteme, die effizient gegen Kampfdrohnen eingesetzt werden können. Die Abschussraten von russisch-iranischen Kampfdrohnen ist erstaunlich hoch.
Die Krim: Für Putin zugleich Achillesferse und Lindenblatt auf Siegfrieds Rücken
Deutschland hat in Rücksprache mit dem NATO-HQ auf den Einsatz von Kampfflugzeugen verzichtet. Man wollte die Gefahr ausschließen, dass Deutschland von Russland als Kriegspartei eingestuft wird. Auch durch die Verzögerungstaktik bei der Lieferung von Kampfpanzern hat Deutschland sein Ansehen bei der NATO und in der Ukraine weiter verloren.
In den nächsten Kriegstagen und -wochen wird sich zeigen, welche Seite aus der „Winterpause“ mit Kampfgeist und hohem Ausbildungsstand herauskommt. Forderungen nach einem baldigen Beginn von Verhandlungen sind realitätsfern. Die Entscheidungen liegen in erster Linie bei der Ukraine, Russland und den USA.
Für die Ukraine ist die Krim von sehr großer Bedeutung. Die begrenzten Eingriffe ukrainischer Kräfte auf der Krim sollte die russische Führung nachhaltig prüfen, ob die Stationierung ihrer Schwarzmeerflotte weiterhin Sinn macht. Die Zerstörung von großen russischen Treibstofflagern auf der Krim sind Warnzeichen. Vielleicht strebt die Ukraine an, der russischen Regierung deren Jubiläumsfeier am 9. Mai zu versalzen.
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*) Brig. General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen und anschließend Berufssoldat. Einen Höhepunkt seiner Karriere bildete die Tätigkeit im Planungsstab von Bundesverteidigungsminister Dr. Manfred Wörner, wo er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig war. In den 90er Jahren fand er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte Verwendung und war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt. Schon während seiner Dienstzeit verfasste Farwick mehrere Bücher und andere Publikationen zu Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte. Im „Ruhestand“ engagierte er sich viele Jahre als Chefredakteur eines Newsservice für sicherheitsrelevante Themen und organisiert heute noch Tagungen zu diesem Thema an renommierten Instituten.