Peter Helmes
Die Wahlen in Frankreich haben ein überraschend deutliches Ergebnis gebracht: Das Linksbündnis hat gewonnen, das Mitte-Lager von Macron landet auf dem zweiten Platz. Die Regierungsbildung macht das nicht gerade leichter. Für Deutschland könnte das nichts Gutes bedeuten; denn der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon haßt unser Land wie kein anderes.
Die Rechtsradikalen kommen in Paris vorerst nicht an die Schalthebel der Macht. Gewonnen hat laut ersten Hochrechnungen die linke Volksfront. Das Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen kommt demnach ‚nur‘ auf etwa 140 Sitze in der 577-köpfigen Nationalversammlung. Die absolute Mehrheit und damit der Regierungsanspruch bleiben den Rechten zum Schluß erstaunlich klar versagt.
Mit einem solchen Einbruch des Rassemblement National haben selbst die kühnsten Umfragen nicht gerechnet. Statt 289 Abgeordneten, die für eine absolute Mehrheit notwendig sind, könnte die Partei Marine Le Pens am Ende nur halb so viele Mandate gewinnen.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist haarscharf an einem politischen Desaster vorbeigeschrammt. Marine Le Pen darf sich ärgern. Die Vorsitzende des rechtsextremen Rassemblement National (RN) galt noch bis vor wenigen Stunden als neue starke Frau der Grande Nation. Ihre Partei lag in den Umfragen vorn, ihr Kandidat Jordan Bardella sah sich wohl schon als neuer Premierminister – mit Le Pen als großer Strippenzieherin im Hintergrund.
Frankreich hat gewählt – und zwar deutlich nicht rechts
Das ist das zentrale und unerwartet deutliche Ergebnis des zweiten Wahlgangs der Parlamentswahlen. Im Gegenteil: Das Linksbündnis Nouveau Front Populaire (NFP) gewinnt die Wahlen klar vor dem Parteienbündnis des Präsidenten und noch viel deutlicher vor dem rechtsradikalen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen.
Drei Mal trat Mélenchon (Linksbündnis) bei den Präsidentenwahlen an, jedes Mal gewann er mehr Stimmen: 11 Prozent 2012, 19,5 Prozent 2017 und fast 22 Prozent 2022. Ihm fehlten knapp 400.000 Stimmen, um in die Stichwahl einzuziehen. Dabei setzte er gezielt auf ein antikapitalistisches Wirtschaftsprogramm, eine antiwestliche Außenpolitik und antijüdische Ressentiments, das ihm nicht zuletzt Stimmen von Einwanderern brachte.
Nach Angaben des französischen Innenministeriums haben die vereinigten Linken mindestens 181 der 577 Sitze im Parlament errungen. Noch überraschender: Das Regierungslager liegt auf Platz zwei, Emmanuel Macrons Kräfte bekommen mehr als 160 Sitze. Das Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen und seine Verbündeten Sammlungsbewegung konnte demnach nur 143 Sitze holen und liegt damit auf dem dritten Platz.
Ein alle überraschendes Ergebnis: Die französischen Wähler wollen keine Regierung von Rechtsaußen
Das Ergebnis ist mehr als eindeutig. Der RN kommt kaum über ein Viertel der Sitze im Parlament hinaus, und das bei der höchsten Wahlbeteiligung seit über 40 Jahren. Das macht klar, die französischen Wähler wollen keine Regierung von Rechtsaußen. Nicht zuletzt die hohe Wahlbeteiligung zeigt: Eine deutliche Mehrheit schreckte bei allem Frust über Macron die Vorstellung, künftig vom Rassemblement National regiert zu werden.
Von einer Partei, die ihr Heil in nationaler Abschottung, in wirtschaftlichem Protektionismus und in einer Spaltung des Staatsvolks in wahre und falsche Franzosen sieht. Macron mag von einem Bündnis seiner liberalen Mitte mit den verbliebenen gemäßigten Konservativen und erstarkten Sozialdemokraten träumen. Doch dafür müßte das neue Linksbündnis zerbrechen.
Neue Schwerpunkte
Die Arbeitslosigkeit rangiert in Zeiten des Fachkräftemangels längst nicht mehr weit oben auf der Problemskala und für die Sorgen, die viele Menschen tatsächlich umtreiben, bot Macron keine Lösungen: die schwindende Kaufkraft und die sozialen Probleme, die unter anderem durch einen verfehlten Umgang mit der Einwanderung entstanden. Auf Proteste reagierte er arrogant, beklagte, die Franzosen hätten keine Einsicht in die Notwendigkeiten seiner Politik und wurde so zum Inbegriff dessen, was sie am meisten hassen: die abgehobene, reiche, städtische Elite.
Le Pens Gift hingegen wirkt immer noch, wenn auch nicht mehr so stark wie erhofft. In ihrem Weltbild gibt es nur zwei Sündenböcke: Ausländer und die EU. Sie sind für alle Probleme verantwortlich. Da ist es dann auch egal, wenn vieles aus dem RN-Wahlprogramm kaum umzusetzen ist, etwa der angekündigte Ausstieg aus dem europäischen Energiemarkt, um die Preise für Gas und Strom staatlich subventionieren zu können. Auch die immensen Kosten geplanter Steuersenkungsprogramme lassen sich nicht allein mit dem Kürzen oder Streichen von sozialen Leistungen für Ausländer gegenfinanzieren, wie unlängst das Wirtschaftsinstitut Montaigne berechnete.
Es gibt nur relative Mehrheiten, keinen klaren Regierungsauftrag – und die Gefahr, daß sich die Lager gegenseitig blockieren. Sowohl Mélenchon als auch Le Pen werden vermutlich jede mögliche Regierung vor sich hertreiben. Obwohl es im linken Volksfront-Bündnis längst nicht nur Populisten und radikale Kräfte gibt, droht Macron jetzt ein Zangengriff von links und von rechts.
Gefährlich ist das aber nicht nur für Frankreich, sondern auch für Europa. Als starker Partner in der Unterstützung für die Ukraine dürfte Frankreich wegfallen. Zwar bestimmt der Präsident die Außen- und Verteidigungspolitik, doch über die Finanzen entscheidet das Parlament – und damit auch über Hilfen für die Ukraine. Mehrheiten hierfür zu gewinnen, dürfte schwieriger werden. Wladimir Putin wird sich freuen.
Wichtig dabei: Das Wahlsystem der Fünften Republik kennt keine Verhältnismäßigkeit, spiegelt also nicht die Gesamtzahl der Stimmen im ganzen Land, sondern nur die Gewinner des jeweiligen Wahlkreises. Gleichwohl, der RN hätte auch bei dem deutschen Verhältniswahlrecht bei Weitem keine Mehrheit gewonnen, sondern klar verloren – so sehr er sich auch als Vertreter der Mehrheit geriert.
Die Wahllokale auf dem Land hatten um 18 Uhr geschlossen. Auf die erste landesweite Prognose mussten die Wähler allerdings noch zwei Stunden warten, weil in den großen Städten die Urnen bis 20 Uhr geöffnet blieben. Klar war aber bereits: Es würde eine Rekordbeteiligung geben – mehr als 67 Prozent, die höchste seit 1981, kurz nach der Wahl von Mitterand zum Präsidenten der Republik. Die Prognosen schlugen dann ein wie eine Bombe. Kaum jemand hatte mit diesem Ergebnis gerechnet.
Die Zukunft Frankreichs ist ungewisser denn je
Noch kennt niemand die genaue Sitzverteilung, aber so viel ist sicher, in der neugewählten Nationalversammlung verfügt niemand über eine Mehrheit. Weder die Linke, noch das Präsidentenlager und schon gar nicht die Rechtsradikalen des RN: Ein Novum für die fünfte Republik, die auf eindeutige Mehrheiten ausgerichtet ist. Praktisch heißt das, dass das Parlament an Bedeutung gewinnen wird.
Es wird miteinander gesprochen, ja ernsthaft verhandelt werden müssen, um Sachfragen womöglich gar gemeinsam zu lösen. Das kann den Abgeordneten eine neue Macht gegenüber dem Präsidenten verschaffen, so man denn zu gemeinsamen Lösungen findet und sich nicht nur gegenseitig blockiert. Ob das gelingen kann, bleibt abzuwarten. Viel Übung in dieser Frage hat das französische Parlament nicht.
Wie geht es weiter?
Zunächst einmal ist Präsident Macron gefragt. Er wählt und bestimmt einen Premierminister. Das geschieht gemeinhin, aber nicht zwingend, aus der stärksten Fraktion. So will es die Verfassung. Der linksradikale Ex-Trotzkist Jean-Luc Mélenchon hat sich bereits wenige Minuten nach der ersten Prognose in Stellung gebracht. Er sieht sich selbst als den “geborenen Kandidaten”. Die Einschätzung hat er ziemlich exklusiv.
Denn in Wahrheit will selbst das Linksbündnis NFP Mélenchon nicht. Sozialisten und Grüne werden ihn ziemlich sicher nicht unterstützen. Das kann vorausgesetzt werden. Denn die Parti Socialiste haben nicht nur bei den Europawahlen eine kleine “Wiedergeburt” erlebt, sie liegen auch bei der Anzahl der Parlamentssitze nahezu gleichauf mit Mélenchons Partei La France insoumise (LFI).
Das gibt ihnen eine starke Position. Der in die Nationalversammlung gewählte Ex-Präsident François Holland steht wohl nicht zur Verfügung, eher schon der Spitzenkandidat bei den Europawahlen Raphael Glucksmann. Aber auch das ist am heutigen Tag reine Spekulation. Wer in der Lage ist, wenigstens partiell Bündnisse im Parlament schmieden zu können, ist fraglich. Danach aber wird sich die Entscheidung von Macron zu richten haben.
In den Abgrund geschaut
Es wird in den nächsten Tagen sehr viele Gespräche geben, manche öffentlich, die meisten aber hinter verschlossenen Türen, wer als nächster Premier in den Matignon einzieht. Am Abend des 7. Juli 2024 – und sicher auch noch in den nächsten Tagen – überwiegt die Überraschung, ob dieses ziemlich unerwarteten Wahlausgangs. Frankreich hat in den Abgrund einer rechtsradikalen Mehrheit geschaut. Und sich mit großer Mehrheit deutlich dagegen entschieden. Ob es jetzt einen Weg findet, die ungewohnte Pattsituation im Parlament produktiv zu lösen, ist eine heute noch nicht beantwortbare Frage.