Kaum Chancen zu einer Rückkehr zur Demokratie
(www.conservo.wordpress.com)
Von Peter Helmes
Zwei wichtige Erkenntnisse vorab:
Erstens: Es geht Erdogan allein um die Absicherung seiner Macht
Statt sein Land nach einem dilettantischen Putschversuch des Militärs endlich wieder zu einen, hat Präsident Erdogan allein die Absicherung seiner Macht im Fokus. Der Türkei wird es unter dieser Regierung nicht mehr gelingen, die Öffnung zu einer modernen, pluralistischen Gesellschaft fortzusetzen. Sie ist zu simpler Machtpolitik, Abschottung und Polarisierung zurückgekehrt.
Zweitens: Die bittere Erkenntnis für alle Erdogan-Bejubler im Westen: Die Erdogan-Türkei braucht die Europäer nicht mehr.
Was heißt das für die Europäische Union, die mit einer solchen Türkei Beitrittsverhandlungen führt? Über eines darf es kein Vertun geben: Eine Türkei, deren politische Führung von der Wieder-Einführung der Todesstrafe, von politischer “Säuberung”, von auszumerzenden “Krebsgeschwüren” fabuliert, weit hinein in friedliche Teile der Gesellschaft, wo immer Anti-Erdogan-Kräfte vermutet werden – eine solche Türkei kann und darf nicht Mitglied der EU werden.
Aber der Reihe nach:
Die Festnahme von 6 oder 7.000 Menschen und der Rausschmiss von 2.700 Richtern und zigtausenden Beamten sind sehr beunruhigende Signale eines Regimes, das schon seit einiger Zeit die Zivilgesellschaft einschüchtert, indem sie Journalisten schikaniert und verfolgt. Eine Säuberung der Streitkräfte ist nach einem gescheiterten Militärputsch unausweichlich. Aber es waren nicht die Richter, die sich gegen die Regierung erhoben haben. Der Angriff auf die Justiz ist besorgniserregend – vor allem in Anbetracht von Erdogans Geringschätzung für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Die Stunde der Abrechnung ist gekommen. Nun kann der Präsident ohne Skrupel die letzten Reste der Opposition und mögliche Gegner niederschlagen. Ein so großer Schlag unmittelbar nach einem Putschversuch ist entweder eine Superleistung oder, und so scheint es mehr und mehr, eine lange im Voraus geplante Aktion, vergleichbar mit den einstigen Säuberungswellen des sowjetischen Diktators Stalin. Die Türkei ist schon länger keine klassische Demokratie mehr. Nun baut sich ein rücksichtsloser Autokrat in dem 80-Millionen-Einwohner-Land an der Südostgrenze Europas seinen Thron.
Die Türkei entfernt sich unter Erdogan und dem Jubel seiner vielen Anhänger immer weiter von den Mindeststandards bei den Menschenrechten, der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung, die in der EU gelten. Die Gedankenspiele zur Wiedereinführung der Todesstrafe sind dafür nur ein Beispiel.
Bisher haben Erdogan Warnungen aus dem Ausland eher wenig beeindruckt. Auch jetzt will er den Sieg über die Putschisten voll auskosten. Und dazu gehören auch die Rachegelüste, die er mit seinen Anhängern teilt. Viele würden gerne Blut sehen.
Der türkische Präsident kann inzwischen nach Herzenslust wüten, er ist kaum noch aufzuhalten nach dem gescheiterten Putschversuch. Und wenn er Verräter – oder die, die er dafür hält – mit dem Tode bestrafen will, dann wird er es künftig tun. Alle, die ihn daran hindern könnten, hat er ausgeschaltet oder schaltet sie gerade aus.
Erdogans finaler Rundumschlag
Es kommt noch dicker: Pläne, die Todesstrafe wieder einzuführen, machen in Ankara die Runde. Wer Erdogan kennt, darf nichts Gutes erwarten. Der Putsch mußte zwar scheitern, so auffällig stümperhaft, wie er durchgeführt und vom Volk abgelehnt wurde. Es ist aber tragisch, daß hieraus nicht die türkische Demokratie, sondern nur Erdogan gestärkt hervorgehen wird. Ihm bietet der verhinderte Staatsstreich eine Gelegenheit zum finalen Rundumschlag.
Die türkische Gesellschaft assistiert dabei, wie die Diktatur eingeführt, die Gewaltenteilung endgültig beseitigt, tausende Richter abberufen, Soldaten verhaftet und im schlimmsten Fall sogar hingerichtet werden. Schon seit einiger Zeit braucht sich Präsident Erdogan nicht um Kritik aus dem Ausland zu kümmern. Für die USA ist er ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den IS, für die EU ein unverzichtbarer Partner in der Flüchtlingsfrage. Mit dem Putschversuch ist nun auch das letzte Hindernis beseitigt, um Erdogans großen Traum zu verwirklichen: Er kann ein Präsidialsystem errichten.
Nach dem gescheiterten Putschversuch wußten Polizei und Geheimdienst sofort, wen sie wo suchen sollten. Daher liegt die Frage auf der Hand, ob der Umsturzversuch nicht tatsächlich eine inszenierte Provokation war. Erdogan brauchte den Putsch, um mit seinen Gegnern fertig zu werden. Europa kann jetzt nur noch zuschauen, wie er sich immer stärker zum Sultan entwickelt.
Was Erdogan bisher macht, ist einfach immer mehr zuzuspitzen und davon zu profitieren, aber irgendwann kippt dann das ganze Land über den Abgrund raus. Denn moderne, komplexe und ausdifferenzierte Gesellschaften treffen in der Türkei auf merkwürdig vormoderne dynastische Zeiten zu. Das kann sich nicht vertragen. Und wenn der Elan seiner Anhänger irgendwann nachläßt, könnte es zu einem Bürgerkrieg kommen – oder zu einem neuen Militärputsch
Aber die zivilgesellschaftliche Entwicklung der Türkei ist die wichtigste Schaltstelle, bei der es um die Europafähigkeit der Türkei geht. Eine Türkei ohne Zivilgesellschaft kann auch nicht Teil Europas sein und auch mit Europa nicht kommunizieren. Das ist unser Problem immer wieder mit der Türkei, auch in politischen Dingen, daß im Grunde genommen die Zivilgesellschaft nicht stark genug ist, um auch der Politik ein Gegengewicht darzustellen. Und Erdogan wird die Rolle des Modernisierers gewiß nicht übernehmen.
Neuer Flüchtlingsstrom Richtung Griechenland droht
Politische Instabilität in der Türkei könnte zu einem neuen Flüchtlingsstrom Richtung Griechenland und den anderen Staaten der EU führen. Doch diese Interessenlage darf für den Westen kein Grund sein, die Augen vor den bedenklichen Auswirkungen zu verschließen, die der mißglückte Putsch nun zu haben scheint. Erdogan hat den Putschversuch sofort genutzt, um seine Machtposition zu stärken und sich Gegnern seiner Politik zu entledigen.
Was zu tun ist: Sofortiger Abbruch der Verhandlungen
Bei aller Liebe zur Diplomatie – hier hört sie auf. Der türkische Präsident und General-Machthaber Erdogan zeigt nicht nur seine Folterwerkzeuge, er benutzt sie auch, u. zw. ohne jede Scham, getragen von einer Woge (im wahrsten Sinne des Wortes) hochgeputschter Anhänger. Da ist kein Raum mehr für Abwarten, für diplomatische Floskeln wie z. B. „Überlegungen, die EU-Beitrittsverhandlungen einzufrieren“. Nein, der Westen muß eine klare, unmißverständliche Botschaft senden: Sofortiger Abbruch der Beitrittsverhandlungen! Sollte Erdogan irgendwann zur Einsicht kommen, daß Europa nur für Demokratien offensteht, können die Gespräche wieder aufgenommen werden – aber nur dann. Basta!
Druckmittel Wirtschaftsbeziehungen
Der türkische Präsident will Reisefreiheit für seine Bürger in der EU. Und er will gedeihliche Wirtschaftsbeziehungen. Ihm das eine oder das andere vorzuenthalten oder schon gewährte Vorteile wieder einzuschränken, sollte er sich im Nachgang zum Putschversuch noch weiter von den Prinzipien eines Rechtsstaats entfernen – das scheint unter solchen Umständen das einzige Druckmittel, das die EU hat. Diese Trumpfkarten zu spielen, hätte einen Preis, denn auch Ankara hat einen fetten Trumpf im Ärmel. Die EU hat mit dieser Türkei immerhin ein Flüchtlingsabkommen, an dessen Aufkündigung ihr erklärtermaßen nicht gelegen ist.
Und so haben die Europäer in der Beziehung zur Türkei momentan die unerquickliche Wahl zwischen Pest und Cholera: Sich entweder auf folgenlose markige Appelle an die Adresse Ankaras zu verlegen, die keinem wehtun, nichts bewirken und die Union letztlich der Hilflosigkeit überführen. Oder ignorierten Appellen Taten folgen zu lassen, was auch für die EU unangenehme Folgen haben könnte. Gesunde Beziehungen sehen anders aus.
Kein Spielraum mehr für Verhandlungen
Wenn der türkische Präsident Erdogan sein abdriftendes Autoritätsstreben nicht stoppt und nicht so schnell wie möglich die demokratischen Institutionen und die zivile Freiheit wiederherstellt, haben die Europäer keinen Spielraum mehr für Beitrittsverhandlungen. Darüber hinaus steht dann das Abkommen in Frage, nach dem syrische Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt werden können. Und auch die Realpolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel muß sich politische und moralische Grenzen setzen. Was im Klartext heißt: Auch Merkel muß einsehen, daß eine Annäherung an Erdogan die europäischen (und deutschen) Ideale verrät.
Anders als die meisten Länder im Mittleren Osten hat die Türkei (noch!) eine demokratische Staatsform und gehört zur Nato. Aber die ständigen Konflikte und Reibungen zwischen den westlichen und den islamisch geprägten Gesellschaften sind große Unruheherde. Wenn man dort keine Balance findet, wird sich das auch auf andere Teile der Welt auswirken. Ob Erdogan diese Balance überhaupt will, darf nach seinen ersten Schritten nach dem Putsch bezweifelt werden.
Auch die NATO trägt Verantwortung
Seit Erdogan die Opposition im Würgegriff hält, muß klar sein, daß eine EU-Mitgliedschaft für viele Jahre nicht infrage kommen kann. Aber die Frage ist, ob nicht auch die NATO klaren Abstand zu der Diktatur halten sollte, die sich gerade entwickelt. Die NATO kann auf lange Sicht nicht ignorieren, was sich in der Türkei abspielt. Es darf nicht sein, daß sich im westlich begründeten Verteidigungsbündnis undemokratische Gesellschaften halten.
Erdogan übersieht wohl eine Gefahr (oder achtet sie gering): Er wäre stark, wenn er aus dem Putsch die Konsequenz zöge, daß das Land eine unabhängige und neutrale Armee braucht. Wenn er nun aber sämtliche Gegner ausschaltet und nur durch Liebediener ersetzt, untergräbt er die Professionalität der Streitkräfte. Auch wäre er stark, wenn er den nationalen Konsens festigen und allen absolutistischen Versuchungen widerstehen würde. Die legitime Regierung hat sich durchgesetzt, aber das Land steht an einem Scheideweg: Nun triumphiert entweder der Sultan Erdogan – oder die Institutionen des Landes und das demokratische Modell, für das sie stehen, setzen sich durch. Dafür besteht aber nach diesem Operetten-Putsch wenig Hoffnung.
Der Zynismus des Geschehens
Der Politiker Erdogan hat einst sein Land modernisiert, dafür gesorgt, daß es wirtschaftlich aufblühen konnte. Nicht ohne Grund wird er deshalb bis heute von vielen seiner Landsleute verehrt. Doch der Erfolg ist ihm zu Kopf gestiegen. Allmachtsphantasien, Verfolgungswahn und Zorn treiben ihn offensichtlich nun dazu, sein Lebenswerk zu zerstören. Er merkt nicht mehr, daß der Putschversuch auch eine Reaktion auf seine spalterische, totalitäre Politik war.
Aber täuschen wir uns nicht: Niemand sollte glauben, mit gut gemeinten Ratschlägen könnten Berlin oder Brüssel aufhalten, was gerade in Anatolien geschieht. Mahnungen, die Rechtsstaatlichkeit einzuhalten, verfliegen in Richtung Bosporus ebenso wie Forderungen deutscher oder deutsch-türkischer Politiker nach einem Rücktritt Erdoğans. Zur Zeit herrscht Erdogan – und niemand sonst. Wie lange noch, liegt in seiner Hand.