Visegrad-Staaten contra Merkel: Nicht mit diesem Europa!

(www.conservo.wordpress.com)

Von Peter Helmes

Jahrhundertaufgabe IntegrationAngelaMerkel

Vor einem Jahr sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre berüchtigten Worte “Wir schaffen das”. Inzwischen hat Deutschland angefangen zu begreifen, wie groß die Aufgabe der Integration tatsächlich ist. (Ob´s auch Frau Merkel begriffen hat, sei einmal dahingestellt.)

Ein Land im Wandel – Die neuen Deutschen

Angela Merkel kam mit ihren Worten zu früh. Es gab keine Vorbereitung für die Aufnahme so vieler Flüchtlinge. Es fehlte an allem. Angela Merkel kam zu spät – gemessen an den Versäumnissen europäischer Flüchtlingspolitik. Das zentrale Europa hatte sich eingerichtet und vor allem die Mittelmeer-Länder jahrelang mit den Flüchtlingen alleine gelassen. Merkels Grenzöffnung war auch der Furcht vor schrecklichen Bildern geschuldet von Verletzten und Toten. Nur Gewalt hätte die Menschen aufhalten können. Eindeutiger ist das Jahr seither nicht zu bilanzieren.

Zweidrittel unzufrieden mit Merkel

Der Einbruch der Wirklichkeit damals und die Wirklichkeit heute verbindet die anhaltende zivilgesellschaftliche Hilfe für die Flüchtlinge. Politische Zustimmungswerte fallen, zwei Drittel der Deutschen sind unzufrieden mit der Kanzlerin. Die meisten Helfer halten zwar durch und sehen ihre eigene Arbeit weiter positiv. Aber die Stimmen derer aus ihren Reihen, bei denen inzwischen Skepsis der Hilfsbereitschaft gewichen ist, sind unüberhörbar.

Offene Grenzen haben Verfolgte und Verfolger kommen lassen. Würzburg und Ansbach, Paris und Brüssel sind Orte des Terrors. Auch Deutschland kann zu jeder Zeit wieder von einem terroristischen Anschlag bedroht werden. Zuwanderung ist auch zu einem Sicherheitsproblem geworden. Mißtrauen und Angst grassieren im Land. Und dazu gehört auch Angst der Politiker vor den Wählern.

Über Unterschiede sprechen und auch streiten

Was fehlt, das ist das Wahrnehmen von Unterschieden und das Sprechen und auch Streiten darüber. Die Türkei ist mit dem Flüchtlingsabkommen vom Bittsteller vor den Toren Europas zum machtvollen Akteur geworden. Und der türkische Präsident zertrümmert in seinem Land die demokratischen Strukturen. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Zu reden ist über ganz und gar unterschiedliche Interessen. Auch Europa hat welche, auch gegenüber der Türkei. Die Wirtschaftsinteressen des Kontinents sind etwas anderes als die Verpflichtung zur Humanität.

Wer diese Unterschiede nicht ausdrückt, gerät in Gefahr. Wir sind mittendrin, wenn wir Reibung nicht zulassen und wenn wir Konsens nur verordnen und wenn wir Werte nur deklamieren, nicht aber leben und verteidigen. Kritik an der Flüchtlingspolitik ist keine Hetze. Moralisieren ist kein Ersatz für Politik und ersetzt erst recht nicht Wahrheiten..

Nur 10 bis 15 Prozent der Flüchtlinge sind gut qualifiziert

Zu diesen Wahrheiten gehört, daß nur 10 bis 15 Prozent der Flüchtlinge gut qualifiziert sind. Für die anderen wird längere Zeit und mehr Geld aufzuwenden sein. Zu hören ist auf die Generationen der Zuwanderer zuvor. Sie wurden integriert durch Arbeit, konnten vom Hilfsbedürftigen zum Helfenden werden, Selbstachtung gewinnen.

Als die Kanzlerin vor einem Jahr von mehr Flexibilität sprach, haben viele dieses Wort gehört, aber nicht übersetzt. Was heißt das, was bedeutet das, welche Folgen hat es für die Menschen, die kommen und für die Menschen, die im Land sind? Migration ist nicht mehr die Ausnahme, Migration ist inzwischen Normalität. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir gerade dabei sind, die Größe der Aufgabe erst zu begreifen.

Visegrad-Gruppe contra Merkel

Es ist ein besonderes Signal, daß Bundeskanzlerin Merkel soeben in Warschau mit der sogenannten Visegrad-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) zusammenkommt. In der Flüchtlingspolitik wollen diese Länder ebenso wie Deutschland zwar eine europäische Lösung. Ihr Ansatz ist allerdings ein anderer.

Sie gehören bekanntlich zu den schärfsten Kritikern des deutschen “Wir schaffen das!” Die Flüchtlingspolitik führt ihre Kritikliste an. Im Mittelpunkt ihrer Kritik steht Bundeskanzlerin Merkel, die sich soeben in Prag bereits einen Korb eingefangen hat, was verbindliche Verteilungsquoten für Flüchtlinge betrifft. Während es Deutschland um die faire Verteilung der aufgenommenen Flüchtlinge gehe, steht für die Visegrad-Staaten eine gemeinsame Grenzsicherheitspolitik im Vordergrund.

Es zeigt sich, daß eine gemeinsame Flüchtlingspolitik der EU reines Wunschdenken ist – gerade auch bei der Bundeskanzlerin. Da treffen zwei ganz unterschiedliche Ansätze aufeinander: Einer, wie er von Deutschland verfolgt wird, der im Kern eine humanitär inspirierte Hilfspolitik – man könnte auch sagen: Hilfsduselei – praktiziert, die ein Aufnahmegebot von Schutzsuchenden einschließt. Und auf der anderen Seite haben wir die Devise „Security first“.

Wenn es um Flüchtlingspolitik geht, dann schauen die Visegrad-Länder vor allem durch die Brille namens „Schutz und Sicherheit“ auf die große Problematik. Man sieht vor allem Risiken und Bedrohungen, und deswegen sagt man, wir brauchen eine effektive Abwehrpolitik, wir brauchen mehr Kontrollen, wir brauchen eine bessere Grenzsicherung. Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident, hat jetzt erst wieder gesagt, durch die ungarische Grenze werde nicht einmal ein Vogel unkontrolliert kommen.

Und der tschechische Ministerpräsident Sobotka erklärte erst vor einigen Tagen, man wolle keine größere muslimische Gemeinschaft im eigenen Land haben. Man sieht sich durch Anschläge, durch Probleme bei der Integration, die es in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Belgien gibt, eigentlich bestätigt in dieser harten Haltung und ist nicht bereit, davon abzurücken. Die Frage obligatorischer Verteilschlüssel ist ein Punkt, bei dem man auch aus innenpolitischen und weltanschaulichen Gründen nicht von der eigene Haltung abrücken will.

Die Visegrad-Politiker möchten die Kontrolle wahren. Es gab immer wieder Stimmen auch aus diesen Ländern, die sagen, na ja, freiwillig sind wir ja dazu bereit, zumindest in einem geringen Maß oder symbolisch dazu beizutragen. Wir wollen nur nicht dazu gezwungen werden. Dann kann es irgendwie sein, daß aus diesen kleinen Kontingenten, und bislang wären sie ja nur tatsächlich sehr marginal, größere werden und wir nicht mehr wissen, was das gesellschaftspolitisch bedeutet. Insofern: harte Haltung!

Nach dem Brexit-Referendum Briten verschieben sich in der EU die Machtverhältnisse. Ein wichtiger Bündnispartner ist weggefallen. Deshalb müssen sich auch die restlichen verbleibenden 27 Staaten dort neu sortieren. Das führt ja auch dazu, daß Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei näher zusammenrücken.

Es gibt natürlich eine Befürchtung, daß eine der Reaktionen auf die Brexit-Krise ein Vertiefungsimpuls sein könnte, und es gab auch schon erste Vorschläge, die sagten, wir müssen jetzt Kerneuropa bilden um die Eurozone herum, und bis auf die Slowakei sind diese Länder nicht drin. Befürchtungen keimen auf, daß es neue Trennlinien geben könnte und man sozusagen in die Marginalisierung gerät. Deswegen sollte man darauf achten, daß nicht neue Brüche in der EU entstehen. Der polnische Europaminister sprach jetzt von einer neuen Einheit der EU, die man nach dem Brexit herbeiführen müsse. Das ist ein klares Signal.

Deswegen suchen diese Oststaaten auch trotz aller Magenschmerzen, die sie haben, den Kontakt mit Deutschland.

Da ist es auch ein sehr wohl verstandenes Signal, ein sehr sinnvolles Signal, daß die deutsche Bundeskanzlerin in letzter Sekunde nach Warschau und Prag fährt und sagt, obwohl wir Differenzen haben, brauchen wir den Kontakt und die Kooperation. Denn wir sollten eines nicht vergessen: Diese Länder werden gerade aus deutscher Sicht auch wichtige Partner sein, wenn es darum geht, die EU in nächster Zeit zu reformieren, auch wichtige Gegengewichte zu Tendenzen, die wir beispielsweise im europäischen Süden haben.

Länder wie Ungarn oder auch Polen, Viktor Orbán und Jaroslaw Kaczynski sind nicht antieuropäisch. Sie wollen nicht aus der EU aussteigen; sie wollen ganz im Gegenteil die EU reformieren und sich aus der Gängelung durch „Brüssel“ befreien. Auch die Visegrad-Staaten wissen, das die Mitgliedschaft in der EU viele Vorteile bringt – finanzielle Unterstützung, Solidarität in der Ostpolitik, eine gemeinsame Energiepolitik usw. Man möchte die EU umbauen, indem man Zuständigkeiten zurückholt, dezentralisiert, mehr Einstimmigkeit möchte. Die Kontrolle sollte künnftig aber (wieder) in den Hauptstädten liegt. Insofern sind, glaube ich, die Befürchtungen, daß diese Länder aus der EU austreten, eher gering. Die Frage ist dann, ob sie eine konstruktive oder destruktive Rolle in den anstehenden Reformdebatten spielen werden.

Was Merkel und die Europäische Kommission sehr bald kapieren müssen: Diese Europa-Skeptiker (Visegrad) wollen nicht mehr, sondern ein besseres Europa! Da müssen wir Alteuropäer aber noch liefern – und zwar ohne Bevormundung anderer!

www.conservo.wordpress.com 28.8.16

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