(www.conservo.wordpress.com)
Von Helmut Roewer
Teil 3: Polen und Deutschland als Spielball der Weltmächte
Spätestens 1943 begannen die alliierten Großmächte USA, Großbritannien und Sowjetunion mit ihren gemeinsamen Planungen, wie die Landkarte Europas nach dem gewonnenen Zweiten Weltkrieg auszusehen habe. Schnell zeigte sich ein Interessengegensatz bezüglich Polens.
Polen als Kriegsbeute – die Konferenz von Teheran
Zwischen dem 28. November und dem 1. Dezember 1943 beim ersten Zusammentreffen der Großen Drei – das waren Roosevelt, Churchill und Stalin – kam in Teheran die Polensache explizit zur Sprache. Hierbei zeigte es sich, dass Stalin auf jeden Fall den Teil Vorkriegspolens zu behalten beabsichtigte, den er sich nach Kriegsausbruch im September 1939 angeeignet hatte. Für Churchill war das ein Problem. Schließlich war Großbritannien 1939 offiziell und mit propagandistischem Getöse wegen Polens Unversehrtheit in den Krieg gegen Deutschland gezogen. Eine Zustimmung zur erneuten Teilung des Landes würde man schwerlich der Öffentlichkeit erklären können. Roosevelt hingegen musste auf eine starke polnisch-stämmige Minderheit in den USA Rücksicht nehmen – jedenfalls dann, wenn er im November 1944 erneut und damit zum vierten Mal die Wahl zum US-Präsidenten gewinnen wollte.Beide Politiker hatten zudem Beklemmungen, dass sie bei einer Zustimmung zu den Plänen Stalins de facto ihr Gütesiegel unter die Ergebnisse des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939 setzen würden. Stalin wusste Rat. Schlau wendete er ein, dass es ihm um nichts anderes gehe als um die Wiederherstellung der Curzon-Linie. Diese östliche Grenze Polens war 1919 von den alliierten Siegermächten des Ersten Weltkriegs festgelegt worden. Das damals noch junge Sowjetrussland hatte niemand gefragt. Jetzt, so der sowjetische Diktator listig, könne wohl niemand was dagegen haben, wenn er die von den alliierten Experten gefundene Lösung umsetze.
Um zu verstehen, worum es ging, muss man einen Moment in die unmittelbare Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs zurückblenden. Ein unabhängiges Polen zu gründen, war gemeinsamer Wunsch der Sieger. Ihre Motive waren unterschiedlich. Frankreich wollte, dass das Deutsche Reich an seiner Ostgrenze unablässig Streit hatte, Großbritannien wollte hingegen einen Landpuffer gegen die Gefahr der Weltrevolutionierungsideen des bolschewistischen Russlands. Diese Gefahr war konkret. Lenins Rotarmisten waren unterwegs, um über Warschau nach Berlin zu marschieren. Vor den Toren Warschaus wurden sie von einer polnisch-französisch-britischen Allianz gestoppt und sodann in die Flucht geschlagen.
Damit wollten sich die Polen nicht begnügen. Vielmehr setzten sie gen Osten nach, bis sich ihre Kavalleriespitzen weit in Weißrussland und in der Ukraine befanden. Sie kamen erst zum Stehen, als ihre Neufreunde im Westen ihnen die weiteren Geldmittel für derartige Abenteuer entzogen. Der anschließende Vertrag von Riga bestätigte weitgehend die polnischen Gebietsgewinne. Sie sorgten bis 1939 für Dauerstreit zwischen Polen und der Sowjetunion.
Jetzt, 1943 in Teheran, hatte Stalin es in der Hand, den Streit um die ostpolnischen Gebiete zu seinen Gunsten zu entscheiden. Er legte seine Streichholzschachtel auf den Verhandlungstisch und bemerkte süffisant, wenn sich denn in den von ihm beanspruchten Gebieten tatsächlich Polen befinden sollten, dann müsse man sie halt verschieben. Was Stalin mit der Streichhölzern, die er seitlich aus der Schachtel schob, vorführte, wurde von den beiden anderen Kettenrauchern ohne weitere Worte verstanden. Gemeint war eine Umsiedlung der zu verschiebenden Polen in die Ostgebiete des Deutschen Reiches. Ihr wurde nicht widersprochen.
Allen Beteiligten am Tisch war klar, dass dies zugleich eine zwangsweise Aussiedlung der Deutschen aus Ostdeutschland bedeuten würde. Roosevelt flüchtete sich in Wolkiges, so wie das seine Art war, doch Churchill stimmte der Vertreibung der Polen und der Deutschen durch einen Trick zu. Er einigte sich mit Stalin auf die Definition von Interessenssphären. Danach würde Osteuropa Stalins Interessengebiet sein, während Churchill im Gegenzug freie Hand in Griechenland verlangte und erhielt.
Sowas kommt von sowas – die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten als Folge der Einigung über die polnische Westverschiebung
Die Folgekonferenzen von London (1944, ohne die Großen Drei), Jalta und Potsdam (beide 1945) änderten an den Grundlagen, die in Teheran Gestalt angenommen hatten, nichts mehr Wesentliches. In London war die Teilung Deutschlands besprochen und beschlossen worden, in Jalta die Einbeziehung Mittelosteuropas in den sowjetischen Herrschaftsbereich und in Potsdam die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und dem Sudetenland.
Die Vertreibung der Deutschen begann noch während der laufenden Konferenz. Um eine gescheite und langfristig haltbare Lösung für das besiegte Deutschland zu finden, reichten die Gemeinsamkeiten der Sieger hingegen nicht mehr aus. Heraus kam nur eine Art von Verwaltungsvereinbarung, nach der sich jeder der Sieger um seine Besatzungszone zu kümmern habe, und dass man sich die Lösung für Deutschland als Ganzes als gemeinsame Aufgabe vorbehalte.
Deutschland als Ganzes, das bedeutete das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 – also einschließlich der deutschen Ostgebiete, die man soeben den Polen überlassen hatte. Die tatsächliche Grenze zwischen Deutschland und Polen wurde entlang der Oder und der Görlitzer Neiße gezogen. Die Odermündung mit der Hafenstadt Stettin und einem Teil der Insel Usedom wurden den Polen von Stalin darüber hinaus großzügig zugestanden. Dafür sackte er das nördliche Ostpreußen rund um Königsberg bis zur Memel ein. Diese, von Stalin vorgenommene Grenzziehung bestimmt auch heute noch die Grenz-Verhältnisse östlich der Oder.
Die Vertreibung der Deutschen aus den deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland vollzog sich unter den schlimmstmöglichen Gewalttätigkeiten. Verlässliche Zahlen der von der Vertreibung unmittelbar betroffenen Deutschen und ihrer Todesopfer sind nur schwer zu ermitteln. Aus den frühen 1950-er Jahren stammende bundesdeutsche Faustzahlen kommen vermutlich der Wahrheit am nächsten. Danach wurden mindestens 15 Millionen Deutsche vertrieben. Nur zwischen 11 und 12 Millionen überlebten das Desaster von Entkräftung, Verhungern, Gewalt, Plünderung, Totschlag und spurlosem Verschwinden.
Die Mehrzahl von diesen wird schließlich als Strandgut des Krieges in den Westzonen Deutschlands angeschwemmt. Ihre Integration dauert Jahre. Sie ist nur möglich, weil die Überlebenden selbst es so wollen. Sie wollen es mit eisernem Willen. Ihr Ziel ist es, wieder auf die Beine zu kommen. Das erstaunliche an diesen Männern und Frauen ist ihre Unauffälligkeit. Sie nehmen jede Arbeit an und hausen unter den abenteuerlichsten Bedingungen. Es ist eine Umwelt, die von der Notwendigkeit vorangetrieben wird, die katastrophalen Folgen des alliierten Bombenkriegs zu überwinden. Und der westdeutsche Staat? Er spendet hie und da einen Lastenausgleich in Geld und den Kindern der Vertriebenen täglich eine Schulmilch.
Und eine Schulmilch für die Kinder von Vertriebenen: Aufnahme eines unbekannten Fotografen, vermutlich Ende der 1940-er Jahre.
Man spricht heute noch vom Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik. Mit gleichen Recht sollte man vom Integrationswunder der Vertriebenen sprechen. Vermutlich bedingten beide einander. Ein guter Indikator für dieses Gelingen ist das Schicksal der eigens für die Belange der Vertriebenen gegründeten politischen Partei, Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Sie kam aus den Kinderschuhen kaum heraus und verschwand dann in der Bedeutungslosigkeit. Es blieben die Treffen der verschiedenen Vertriebenen-Volksgruppen. Revisionistisches Reden dort wurde bald zur Rarität, man beschränkte sich aufs Erinnern. So ist es noch heute.
Ost und West – die Zweiteilung der Welt
Das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen wurde durch die Zweiteilung der Nachkriegswelt bestimmt. Der Eiserne Vorhang verlief mitten durch Deutschland. Westlich davon wurde der sich bildende westdeutsche Staat Mitglied der West-Bündnisse, vor allem der Nato. Dem ostdeutschen Staat ging es kaum anders, sein Militärbündnis hieß Warschauer Pakt. So kam es zum lang andauernden Kuriosum, dass sich Deutsche und Deutsche bewaffnet und als Feinde gegenüberstanden, und demzufolge Deutsche auf der einen Seite als Gegner der Polen und auf der anderen Seite als deren Verbündete. Ob diese theoretische Feindschaft/Freundschaft einem Praxistest standgehalten hätte, ist zum Glück für alle Beteiligten nie getestet worden.
Wie es um das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen in dieser Zeit in Wirklichkeit stand, lässt sich bestenfalls spekulativ beantworten. Ich nehme an, dass auf westdeutscher Seite das Verhältnis zu Polen eher von Gleichgültigkeit dominiert war, schließlich war man kein unmittelbarer Nachbar mehr. In der DDR gab es hingegen, wenn ich mich nicht irre, hinter der Fassade der internationalistisch-kommunistischen Völkerfreundschaft eine latente Feindseligkeit. Ob das auch umgekehrt der Fall war, habe ich nicht herausfinden können.
Wie dem auch sei, nicht nur die Deutschen gingen nach 1945 einen bitteren Weg, in Polen ging der von 1939 weiter. Die Zahlen der aus dem ehemaligen östlichen Polen in die deutschen Ostgebiete zwangsweise Umgesiedelten wurde meines Wissens nie seriös ermittelt. Bereist man die ehemaligen deutschen Ostgebiete, so kommt einem der Verdacht, dass es deutlich weniger waren als die von dort vertriebenen Deutschen. Zum Umsiedlungschaos gesellte sich die langandauernde sowjetische Zwangsherrschaft, die von der KP Polens und ihren Vasallen exekutiert wurde. Entsprechend den Vorgaben aus Moskau wurde nicht nur gegen die polnischen Nationalisten vorgegangen, sondern auch und erneut gegen die polnischen Juden. Im Parteikauderwelsch hieß diese Verfolgung der Kampf gegen das Kosmopolitentum. Hierbei traf es Kommunisten und Nicht-Kommunisten gleichermaßen.
Ein später prominent Werdender unter den jüdischen KP-Funktionären war beispielsweise der Hauptmann der polnischen Staatssicherheit Marcelli Reich. Er hatte sich bei der Verfolgung von polnischen Abweichlern in London einen Namen gemacht. Nach seinem Entkommen in die Bundesrepublik nannte er sich Marcel Reich-Ranicki (1920-2013). Er blieb ein unbarmherziger Kämpfer, wenn auch nur an der Literatenfront. Er blieb das bis zu seinem viel zu frühen Tode. Sein Memoirenbuch mit dem bescheidenen Titel Mein Leben gibt Auskunft, wen alles er unter dem Applaus der Kultur-Schickeria zu ruinieren gesucht hat.
Doch weg vom Einzelfall und zurück zum deutsch-polnischen Verhältnis: Es sind zwei Ereignisse, die eine kurzen Beleuchtung bedürfen. (1) Zum einen handelt es sich um den deutsch-polnischen Vertrag von 1970. Er löste eine wilde Debatte über etwas aus, was er auch bei bestem gegenteiligem Willen nicht hätte leisten können, nämlich den Verzicht der Bundesrepublik (alt) auf die deutschen Ostgebiete, da die Souveränität der Bundesrepublik damals wegen des Deutschland-Vorbehalts der alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gar nicht so weit reichte. Immerhin blieb in den Köpfen der Leute das Bild eines deutschen Bundeskanzlers Willy Brand hängen, der in Warschau vor dem Denkmal für die Gefallenen niederkniet. Ich komme im vierten Teil meines Berichts auf das inhaltlich Notwendige erneut zu sprechen.
(2) Einen deutlichen Misston zwischen der DDR und Polen gab es ab den späten Siebziger Jahren, als die Polen damit begannen, den kommunistischen Staatsglauben durch den Katholizismus zu unterlaufen. Man sagt, der in Rom als Johannes Paul II. auf den Papst-Thron gelangte Pole Karol Wojtyla habe hieran einen maßgeblichen Anteil gehabt.
Wenn sich fortan streikende Polen der Danziger Lenin-Werft öffentlich bekreuzigten, wurde das in Westdeutschland in Verkennung der Lage als Folklore gedeutet, während der Ostblock, einschließlich der DDR, die zutreffende Folgerung zog: Dieses hier war eine Häresie, die nicht geduldet werden durfte, wollte man nicht in Kauf nehmen, dass das ganze sozialistische Gebäude in sich zusammensackte. Demzufolge wurden rund um Polen die Armeen des Warschauer Pakts in Marschbereitschaft versetzt. Der Einmarsch unterblieb, da sich Polens Kommunisten entschlossen, einen General an die Spitze zu stellen und das Kriegsrecht auszurufen. Das Regime bekam die Lage wieder unter Kontrolle. Ob der finstere General mit der dunklen Brille dies mit Brutalität oder Geschick hinbekam, wartet noch auf eine seriöse Aufklärung.
General Wojciech Jaruzelski verkündet im Dezember 1981, um die drohende sowjetische Invasion abzuwehren, das Kriegsrecht in Polen. Man beachte die auffällig drapierte polnische Nationalflagge hinter dem kommunistischen Militärfunktionär.
Die Lage in und zwischen den sowjetischen Satelliten-Staaten blieb fortan gespannt. Im Ostblock machte der Witz die Runde: Seine Freunde kann man sich aussuchen, seine Brüder nicht. Wer nun genau wann den nächsten Schritt in Richtung der Auflösung der Blöcke machte, ist hier nicht das Thema, sondern es interessiert nur, dass der Ostblock einschließlich seiner Kolonialmacht Sowjetunion 1989-92 implodierte. Aus diesem Grunde kam auch das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen erneut und unter neuen sowie uralten Aspekten auf die politische Agenda.
(Folgt Teil 4: „Ende offen“.)
©Helmut Roewer, Februar 2020
******
*) Dr. Helmut Roewer wurde nach dem Abitur Panzeroffizier, zuletzt Oberleutnant. Sodann Studium der Rechtswissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte. Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen Rechtsanwalt und Promotion zum Dr.iur. über ein rechtsgeschichtliches Thema. Später Beamter im Sicherheitsbereich des Bundesinnenministeriums in Bonn und Berlin, zuletzt Ministerialrat. Frühjahr 1994 bis Herbst 2000 Präsident einer Verfassungsschutzbehörde. Nach der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand freiberuflicher Schriftsteller und Autor bei conservo. Er lebt und arbeitet in Weimar und Italien.