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VON DR.PHIL.MEHRENS, AUTOR & PUBLIZIST
Es mehren sich die Stimmen, die durch den „Corona“-Effekt fundamentale Freiheitsrechte gefährdet sehen. Schon Hermann Hesse warnte: „Angstwahn“ ist schlimmer als die Pest.
Sie steht am Abgrund und blickt angstvoll in die Tiefe. Hinter ihr stehen zwei Männer und eine Frau mit einem bissigen Hund an der Leine. Die Gesichter der beiden Männer tragen die zu einer Fratze verzerrten Züge von Olaf Scholz und Jens Spahn. Die Frau ist eine Karikatur von Angela Merkel. Der böse Hund, der bereits giftig die Zähne fletscht, trägt ein Leibchen mit der Aufschrift „Corona“. Und die Frau, die am Abgrund steht, das ist die Freiheit. „Spring, sonst beißt dich Corona“, lautet die Textzeile unter der Karikatur. Sie wurde bisher nirgends veröffentlicht. Sie ist gefährlich. Sie könnte Wasser auf die Mühlen von Verschwörungstheoretikern sein.
Und doch macht dieses Bild etwas Erschreckendes deutlich: dass die Bundesrepublik, die seit siebzig Jahren von den Freiheitsrechten, die das Grundgesetz gewährt, profitiert, diese vielleicht gar nicht verdient hat, so leichtfertig, wie sie gerade damit umgeht. Vor einem Jahr publizierte ich an dieser Stelle aus Anlass des Grundgesetz-Jubiläums einen Essay mit dem Titel: „Ist das Grundgesetz noch zeitgemäß?“ Hintergrund waren die Enteignungsfantasien von Kevin Kühnert und Robert Habeck, den bundesdeutschen Vorzeigesalonsozialisten. Ich schrieb:
Unser Grundgesetz wird siebzig. Es ist ein kritisches Alter, nicht nur beim Menschen, auch bei politischen Systemen: Die Sowjetunion geriet im siebzigsten Jahr ihres Bestehens in den tödlichen Perestroika-Strudel. […] Kritische Geister […] sehen in den oben genannten Symptomen die ersten Wehen eines gesellschaftlichen Umbruchs, der in eine postdemokratische Epoche führen könnte. Ja, das Grundgesetz ist in die Jahre gekommen. Es passt nicht mehr in die Zeit. Denn neue Probleme erfordern neue Antworten.
Ich muss ehrlich zugeben, dass ich damals nicht ernsthaft erwartet habe, dass bereits ein Jahr später fundamentale Menschenrechte wie das Recht auf freie Versammlung, insbesondere zur Ausübung der Religion (Glaubensfreiheit), und das Recht auf Freizügigkeit komplett außer Kraft gesetzt sein könnten. Natürlich konnte man auch nicht ahnen, dass das „neue Problem“, das „neue Antworten“ erfordert, eine solche Pandemie sein würde. Aber nun ist es passiert. In einem anderen Text schrieb ich von einer Katze, die wachsam vor einem Mauseloch stand, in der Erwartung, dass endlich die Nazi-Maus herausgekrochen käme, die sie fressen wollte. Sie merkte gar nicht, dass inzwischen eine Horde gefährlicher Ratten damit begonnen hatte, den Boden durchzusägen, auf dem die Katze stand. Es sollte ein Bild dafür sein, dass der Faschismus als Erzfeind der Freiheit wahrscheinlich nicht noch einmal in der gleichen Gestalt und auch nicht dort auftreten wird, wo alle ihn erwarten. So dumm ist der Faschismus nicht.
Inzwischen mehren sich auch jenseits so genannter neurechter Zirkel die Stimmen, die nicht mehr so ganz normal finden, was gerade in Deutschland geschieht. In dem 3-Sat-Magazin „Kulturzeit“ warnte am 27. April der Philosoph Julian Nida-Rümelin davor, die ganze Gesellschaft für „Corona“ in Sippenhaft zu nehmen und diejenigen, die „überhaupt kein Gesundheitsrisiko“ tragen, „an der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit“ zu „hindern“. Nida-Rümelin wörtlich: „Es wäre eine Sackgasse […], wenn wir das eine, die Vitalität der Ökonomie, des sozialen Lebens, der Kultur, und das andere, den Gesundheitsschutz, gegeneinander ausspielen.“ Das Risiko sei bei Covid-19 „extrem konzentriert“ auf bestimmte Gruppen. Risiken dort zu „bekämpfen, wo sie besonders groß sind“, sei keine Diskriminierung. Und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble machte kurz zuvor bildzeitungswirksam deutlich, dass das Absolutsetzen des Schutzes menschlichen Lebens auch eine Form von Totalitarismus sein kann, auch wenn er die böse Vokabel vermied.
Wer in den wenigen Tage zwischen Filmstart und Kinoverbot das von Nida-Rümelin schmerzlich vermisste Kulturangebot nutzte, um sich die Verfilmung von Hermann Hesses „Narziß und Goldmund“ anzuschauen, oder den Film zum Anlass nahm, sich das Buch noch mal vorzunehmen, dürfte bei dem, was Schäuble und Nida-Rümelin anmahnen, ein kleines Aha-Erlebnis gehabt haben. Denn dort wütet die Pest. Tod und Vergänglichkeit sind generell ein ständig wiederkehrendes Thema in der Hesse-Erzählung. Permanent sieht sich der Vagabund Goldmund auf seiner Wanderschaft damit konfrontiert. Hesse, Sohn evangelischer Missionare, stellt in seiner Darstellung des Grauens eine Verbindung her zwischen „wütendem Tod“ und „irrem Angstwahn“. Als Angstwahn bezeichnet er die Reaktion des deutschen Durchschnittsbürgers auf das Wüten des Würgeengels:
Ein Bischof ergreift panisch die Flucht, anstatt seinen Schäflein gerade in der Stunde der Bedrängnis beizustehen. (Wer würde da nicht sofort denken an die kleinmütigen Bätzings und Bedford-Strohms hierzulande, die die Schließung ihrer Gotteshäuser widerstandslos hinnahmen?) Es gibt Leichenfledderei, Zechgelage, Pogrome und Mord. Diesem Angstwahn gegenübergestellt wird die burschikose Unbekümmertheit des Unbehausten. Über Goldmund heißt es lakonisch: „Furcht fühlte er nicht.“ Doch es ist nicht Naivität, die den Vagabunden so wenig panisch reagieren lässt, es ist das Gegenteil: ein klares Bewusstsein von der eigenen Endlichkeit und Todverfallenheit.
Er hat in früheren Begegnungen mit dem ungeliebten Gevatter begriffen, dass der Tod ein integraler Bestandteil des Daseins ist, den man nicht abwimmeln kann wie die Schwiegermutter, die ungebeten vor der Tür steht. Eine unbegreifliche Neugierde, ein Verlangen, „dem Schnitter zuzusehen, das Lied der Vergänglichkeit zu hören“, treibt den Lebemann mitten hinein in das Toben des Todes. Das Schlimmste sind bei seinen Streifzügen durch das verseuchte Land aber nicht die Toten: „Das Schlimmste waren die Lebenden, die unter der Last von Schrecken und Todesangst ihre Augen und ihre Seelen verloren zu haben schienen.“ Das sind Worte, die aufhorchen lassen. Sie führen mitten hinein in unser von „Corona“ aus den Angeln gehobenes Gemeinwesen. Sie führen zu der Frage, wie eine Demokratie aussehen müsste, die ihre Seele und den Blick fürs Wesentliche verloren hat.
In seiner FOCUS-Kolumne schrieb der Journalist Jan Fleischhauer in der Woche nach Ostern über die Sorge, die Zustimmungswerte zur Freiheitsquarantäne von um die neunzig Prozent bei ihm ausgelöst haben, Werte wie auf einem SED-Parteitag. Man fühlt sich an ein bekanntes soziologisches Experiment erinnert: Wenn sich in einem Wartesaal zehn Leute befinden, von denen acht nach vorheriger Absprache zu einem bestimmten Zeitpunkt ohne erkennbaren Grund aufstehen, dann liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden verbleibenden Nicht-Eingeweihten kurz darauf ebenfalls stehen, im Bereich jener neunzig Prozent, die Merkels „Corona“-Kurs Beifall spenden. Ein Zyniker würde sagen: Mit Charakterlosigkeit eckt man eben weniger an als mit einem eigenen Kopf. Wer möchte schon gern mit dem Etikett „Verschwörungstheoretiker“ auf der Stirn herumrennen? Und hat bei Günther Jauch der Publikumsjoker nicht auch immer Recht? Wer so denkt, übersieht, dass Charakterlosigkeit der perfekte Nährboden für das opportunistische Mitläufertum der NS-Zeit war und Erdogan gleichsam das Ergebnis des türkischen „Publikumsjokers“.
Eine wichtige Rolle als Korrektiv für totalitäre Tendenzen spielt in Demokratien regelmäßig die freie Presse. Wird sie von den Mächtigen kontrolliert, kann die Freiheit in der Regel schon mal die Koffer packen. Insofern stimmt es nachdenklich, wenn sich eine Oppositionspartei wie die FDP bei „Report München“ (ARD) als Lohn für ihr Pochen auf Respekt vor den Bürgerrechten den hämischen Hinweis auf ihre sinkenden Umfragewerte einhandelt. Merkel hat es offensichtlich geschafft, aus kritischen Medien lobhudelnde Lakaien zu machen.
Skepsis ist immer auch angesagt, wenn Staaten auf einmal die Moral als Triebfeder ihrer Politik entdecken. „Wir müssen unsere Alten schützen“, schallt es landauf, landab durch die Republik. Es fehlt freilich die Erklärung, warum man Menschen, die noch durchschnittlich achtzig Jahre Lebenszeit vor sich haben (die Ungeborenen, die in Abtreibungskliniken in Serie über die Klinge springen müssen), für überhaupt nicht schutzwürdig hält, während für Menschen, die diese achtzig Jahre bereits hinter sich haben (81 ist laut Robert-Koch-Institut das Durchschnittsalter der „Corona“-Toten), auf einmal kein Opfer zu groß ist. Wie ist dieses Messen mit zweierlei Maß vereinbar mit dem Argument der „Corona“-Zwangsmaßnahmen-Befürworter, dass Menschenwürde keine Altersgrenze kenne? Manifestiert sich hier nicht eine besorgniserregende doppelte Moral?
Übrigens könnte man ja auch die Alten, um die es angeblich geht, mal ganz demokratisch befragen, was sie eigentlich von diesen Einschränkungen, die ja vor allem ihre Lebensqualität mindern, halten. Ist ein Leben in Trennungsschmerz und Isolation wirklich so viel mehr wert als ein Tod, der mich im Zustand der Geborgenheit im Kreise meiner Vertrauten ereilt? Könnte man es nicht auch als würdelos empfinden, wenn sich Menschen mit vielen Jahrzehnten Lebenserfahrung plötzlich wie unmündige Kinder vorschreiben lassen müssen, was sie zu tun und zu lassen haben? Verbirgt sich hinter solchem staatlichen Gebaren nicht eine unerhörte Arroganz?
Man soll nicht immer böse Motive unterstellen, aber vieles spricht dafür, dass es denjenigen, die jetzt in einer Art Panikattacke auf die Freiheit losgegangen sind, um etwas völlig anderes geht als das Retten von Menschenleben, nämlich das Retten der eigenen Macht vor der Macht der Bilder, die skandalsüchtige Medien wie eine biblische Plage auf sie loslassen würden, würden sie sie nicht um jeden Preis – auch den demokratischer Grundrechte – verhindern. Das wiederum bedeutet, dass wir es letztlich mit erpressbaren politischen Eliten zu tun haben, denen im Angstwahn alles zuzutrauen ist. Keine gute Gemengelage für Freiheit und Demokratie.
Sollte dieser beunruhigende Befund stimmen – was tun gegen diese Erpressbarkeit? Die Suche nach einer Antwort darauf führt zurück zu Goldmund, dem ruhelosen Helden aus Hesses wunderbarer Erzählung. Goldmund hat durch sein intensives Leben mit Höhen und Tiefen eine innere Freiheit errungen, die auch die Bibel kennt. Sie ist gemeint, wenn Jesus davon spricht, dass das Leben verlieren werde, wer es zu erhalten trachte. Oder davon, dass man nicht Angst haben solle vor denen, die den Leib töten können, nicht aber die Seele. Oder davon, dass es dem Menschen nichts nütze, die ganze Welt zu gewinnen, wenn er dabei Schaden nähme an seiner Seele. Die Wortwahl gleicht der Hesses, der die Zeit der Pest eine „Seelenverfinsterung“ nennt. Man meint eine gewisse Verachtung des feinsinnigen Seelenerkunders heraushören zu können für Menschen, denen aufgrund einer modernen materialistischen Minderbemitteltheit jede geistig-transzendente Dimension des Daseins verschlossen geblieben ist und die deshalb an ihrem erbärmlichen Häuflein Leben kleben wie Schmeißfliegen an einem Kuhfladen. Sie sind beklagenswert unfreie Wesen, denen nichts heilig ist als ihre nackte und bloße Erdenexistenz, von der garantiert nichts bleiben wird.
Freiheit, versucht Hesse zu zeigen, entsteht aus der Bejahung der eigenen Begrenztheit und Vergänglichkeit und der Einsicht in das Größere, in das die eigene Existenz eingebettet ist. Freiheit, versucht Jesus zu zeigen, gibt es nicht, wenn das Vergängliche absolut gesetzt wird. Denn am Ende lauert immer das Gefängnis des Todes. Der Schwabe Schäuble, der 1990 fast einem Mordanschlag zum Opfer gefallen wäre, wird das bei seiner Äußerung im Hinterkopf gehabt haben. Es wäre schön, wenn die westliche Welt seine Worte beherzigen und auch unter der Last von Schrecken und Todesangst im Auge behalten würde, dass Menschenwürde nicht in dem Maße zunimmt, wie es gelingt, die kurze Spanne Leben, die jedem zugemessen ist, zu verlängern. Viel wichtiger sind die Umstände, unter denen es gelebt und an sein Ziel gebracht werden kann. Vereinfacht ausgedrückt: Fünfzig Jahre in Freiheit sind besser als hundert im Staatsgefängnis.