Von Peter Helmes
Es ist Krieg – und plötzlich erleben wir eine wahre „WIR-Orgie“: „WIR müßten…, WIR sollten…, WIR können…“ Wir, Wir, Wir. Ein ICH hört man kaum. Das hat Gründe:
Mit einem Wir klingt alles halb so schlimm, das Wir nimmt Druck von mir weg und vermittelt dem Zuhörer bzw. Leser zumindest die Zuversicht, nicht allein zu stehen, sondern in einer Gemeinschaft – analog etwa zu „geteiltes Leid, ist halbes Leid“.
Wilhelm von Humboldt hat einmal einen Text geschrieben, der uns daran erinnert, daß jedes „Ich“ untrennbar mit dem „Wir“ der Gesellschaft verbunden ist:
„Denn was man für das Eigene hält, ist viel mehr, als man denkt, ein Empfangenes. Das Denken steckt sich immer am anderen an.“
Aber um die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen, braucht es beziehungs- und konfliktfähige Menschen – im Privaten, Beruflichen und in unserer Gesellschaft. Ein WIR beginnt immer mit einem ICH.
Wenn Politiker das Wort „Wir“ zu deutlich verwenden, ist das wie eine Flucht aus der eigenen Identität und gleicht einem Verstecken.
Nicht von ungefähr ist der Vertrauensverlust gegenüber Politikern – und damit auch der Politikerverdruß – enorm. Ihnen gehe es nur um den Machterhalt, urteilten 87 Prozent der Bürger in einer Umfrage. Die Antwort auf die Krise der Politik? Die Bürger greifen zur Selbsthilfe, übernehmen Verantwortung. Sie sind das wahre „Wir“.
Wenn es um Machterhalt geht, ist die Politikerkaste schnell bei der Sache. Läuft etwas gut, habe ICH dafür gesorgt, läuft es schlecht, müssen WIR uns anstrengen, das besser zu machen usw. Das kann man bei nahezu jedem politischen Ereignis studieren.
Typisch für das Ausweichen auf das WIR sind Äußerungen von Wirtschaftsminister Habeck und CDU-Chef Merz, die der Berliner TAGESSPIEGEL kürzlich zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen machte. Beide hatten in Bezug auf die Entwicklung in der Ukraine von Naivität gesprochen. Und – Zitat: „Beide sagten in ihren Statements ‚wir‘. Der nicht für möglich erachtete Einmarsch Russlands in der Ukraine, der Tag also, an dem das Böse, das man nicht sehen wollte, trotzdem Realität wurde, birgt auch die Frage, ob ‚wir‘ uns alle irren. Liegen ‚wir‘ grundsätzlich falsch in unseren arglosen Annahmen, leben ‚wir‘ in einer Blase, die bisher nur glücklicherweise nicht geplatzt ist, und sind bedrohter, als ‚wir‘ glauben wollen? Es ist das gute Recht von Menschen, die Augen vor Unausweichlichkeiten zu verschließen und in alternative Szenarien zu flüchten, wenn die Realität nichts Gutes verheißt. Für die Politik kann das aber nicht gelten. Für sie darf Naivität keine Option sein. Das hat sich jetzt erwiesen.“
Weder Habeck noch Merz ließen erkennen, was sie selbst dachten. Statt „ICH“ hörten wir nur „WIR“. Diese Flucht ins „Wir“ können wir geradezu mustergültig auch bei Folgendem erkennen:
Annegret Kamp-Karrenbauer, vom 17. Juli 2019 bis zum 8. Dezember 2021 Bundesministerin der Verteidigung, versteckte sich ebenso „flexibel“ und schnell hinter dem WIR. Auf twitter schrieb sie (24.2.22, 12:04):
„Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben. Wir haben nach Georgien, Krim und Donbass nichts vorbereitet, was Putin wirklich abgeschreckt hätte.“
Trug sie als Verteidigungsministerin in ihrer Amtszeit nicht die Hauptverantwortung für „unser“ Versagen? Aber das „Ich“ hört man nicht.
Gibt es eine Erklärung für den unterschiedlichen Gebrauch von ICH und WIR? Ja, und platt ausgedrückt, kann man sagen: Wird etwas unangenehm, wechseln wir ins anonymere WIR, bei angenehmeren Vorgängen bevorzugen wir das ICH.
Das tun wir allerdings nicht bei jeder x-beliebigen Geschichte, sondern vor allem dann, wenn wir von negativen Dingen berichten und uns von ihnen emotional distanzieren wollen. Der Grund: Formulieren wir negative Erlebnisse anstelle von „ich“ mit „wir“ (oder „man“), messen wir ihnen eine gewisse Allgemeingültigkeit bei, die uns dabei hilft, mit dem Erlebten besser umgehen zu können. Bei Gebrauch des „Wir“ fühlen wir uns mit anderen „Leidensgenossen“ verbunden und somit „normal“.
Noch deutlicher: Mit einem „Ich“ beziehe ich Position, bin nicht mehr neutral, sondern eben „ich“. Mit einem „Ich“ bin ich sozusagen mittendrin und fühle mich für mein Tun verantwortlich. Das kann unangenehm sein und gewisse Abwehrreaktionen hervorrufen. Deshalb liegt der Wechsel ins „Wir“ nahe. „Wir“ erlaubt eher die Tendenz, sich innerlich zu distanzieren, wenn eigentlich „ich“ gemeint ist.
Klingt komplizierter, als es ist. Und Politiker beherrschen diese Sprach-Klaviatur aus dem FF. Daß das häufig nur um den Preis eines enormen Vertrauensverlustes geht, geschenkt! Politik-Redner sind dann erfolgreich, wenn es ihnen gelingt, die Zuhörer „mitzunehmen“. Das funktioniert erfolgreich nur mit einem WIR, selten mit einem ICH, schon gar nicht mit einem häufigen ICH; denn das langweilt.
Die höchste Steigerungsform eines – geschickt verkappten – WIR ist das Eintauchen ins absolut Unpersönliche, seit etlichen Jahren hautnah zu erleben in der Islam-Debatte. Kein (nicht moslemischer) Politiker würde öffentlich sagen „Ich bin für den Islam“. Er sagt stattdessen – selbst wenn er Bundespräsident ist: „Der Islam gehört zu Deutschland!“
Ehrlicher wäre: „ICH bin ein Islam-Freund“. Das sagt er nicht. So bleibt ihm/ihr nur die Flucht ins Anonyme. Zum Trost für ihn bzw. sie: Bald darf er/sie sagen: „Wir sind alle Moslems.“ Dann erledigt sich auch die Frage „Ich“ oder „Wir“ – ebenso wie die Schuldfrage.
www.conservo.blog 13.03.2022