Prof. Dr. Werner Münch*
Vorbemerkung der Conservo-Redaktion: Mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors bringen wir hier den Wortlaut des am 10.07.22 fertiggestellten Manuskripts eines Vortrags, den Prof. Münch auf dem vom “Forum deutscher Katholiken” organisierten Kongress “Freude am Glauben”, der in diesem Jahr vom 15. bis 17. Juli in Regensburg stattfand, am Eröffnungstag gehalten hat.
“Was Er euch sagt, das tut” lautete das Motto des Kongresses, der vom Regensburger Bischof Vorderholzer mit einem Pontifikalamt eröffnet wurde. Profilierte Referenten wie z. B. der Unternehmer und sich seit Jahrzehnten für die Bewahrung der Schöpfung einsetzende Prof. Dr. Claus Hipp, der Dogmatiker und Bioethiker Prof. Dr. Dr. Ralph Weimann, die Religionsphilosophin und Dozentin an der Katholischen Stiftungsfachhochschule für Soziale Arbeit in München Dr. Beate Beckmann-Zöller oder der Augsburger Bischof Bertram Meier trugen ebenso wie ein vielseitiges Begleitprogramm (inkl. eines speziellen Programms für Jugendliche) zum Erfolg der Veranstaltung bei.
Prof. Dr. Werner Münch hat aus persönlichen Gründen (gesundheitliche Einschränkungen bei seiner Frau und ihm selbst) mit diesem Kongress seine seit 2016 bestehende Schirmherrschaft niedergelegt, es sich aber auch in diesem Jahr nicht nehmen lassen, zum zwölften und letzten Mal in Folge seit 2011 zu einem für katholische Christen wichtigen gesellschaftspolitisches Thema (diesmal über “Das christliche Menschenbild und die Gesellschaftspolitik der Ampel–Koalition”) vorzutragen.
ANFANG des Redemanuskripts – Es gilt das gesprochene Wort
1. Unser christliches Menschenbild
Der Verfassungsrechtler Josef Isensee bezeichnet in einem Aufsatz „Christliches Erbe im organisierten Europa“ (in: Juristenzeitung 70, S. 745 – 754) den Gottesbezug in unserer Verfassung als „Ausdruck der Demut und des Respekts vor den unverfügbaren geistigen Mächten der Religion und der Sittlichkeit, die er nicht zu ersetzen vermag…Im Menschenbild des Christentums, das auf Schöpfung und Erlösung gründet, sind wesentliche Züge der modernen Menschenrechte angelegt: die Einheit des Menschengeschlechts, das auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeht, die Gleichheit aller, die von Gott erschaffen sind, die Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen, in dem sich ein Gedanke Gottes verkörpert, seine Personalität und Eigenverantwortung…Die dignitas humana kommt den Menschen als Person zu. Im christlich – jüdischen Glauben ist er das Ebenbild Gottes, der ihn geschaffen hat“. Soweit Josef Isensee.
Die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ in der Präambel unseres Grundgesetzes ist somit eine verbindliche rechtliche und ethische Richtschnur.
Joseph Ratzinger hat schon vor fast 40 Jahren darauf hingewiesen, „dass es selbstverständlich Naturgesetze im Sinne physikalischer Funktionen gibt, das eigentliche Naturgesetz aber sei ein moralisches. Die Natur sei nicht Zufall oder Montage, sondern Schöpfung. Jede staatliche Verfassung ruhe auf Grundlagen, die sie selbst nicht vorschreiben kann, sondern voraussetzen muss“ (s. „FAZ“; 04. 08. 1984).
Im Ergebnis entnehmen wir diesen Zitaten, dass außer der je persönlichen Verantwortung des Menschenstaatliche und gesellschaftliche Institutionen von der Akzeptanz ethischer und moralischer Grundüberzeugungen leben. In unserer Kultur sind diese christlichen Ursprungs, deren Implementierung uns eine humane Entwicklung beschert hat. Der Hinweis hierauf ist keine Diffamierung Dritter, was die erstaunliche Auffassung von Kardinal Marx ist.
2. Die gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Ampel–Koalition
Seit dem 8. Dezember 2021, also schon mehr als 7 Monate, ist die jetzige Bundesregierung im Amt. In ihrem Koalitionsvertrag wird vor allem das Ziel einer großangelegten Transformation unserer Gesellschaft deutlich. Ich beschränke mich in meinem Beitrag ausschließlich auf ihre gesellschaftspolitischen Ziele (die Zitate nennen die jeweiligen Seiten des Koalitionsvertrages; sie stehen im Manuskript).
Schon in der Präambel werden wir darauf eingestimmt, dass
- jeder „das eigene Leben frei und selbstbestimmt gestalten soll“ (S. 6)
- zur Ermöglichung „gleichberechtigter Teilhabe“ sollen Rechtsnormen modernisiert werden – „vom Familienrecht bis zum Staatsbürgerschaftsrecht“, weil man „der gesellschaftlichen Realität Rechnung tragen“ will (S. 6) und
- Kinder eigene Rechte haben, die „im Grundgesetz verankert werden sollen“ (S. 6).
Im Kapitel 5 über Familien und Kinder lauten die Schwerpunkte:
- „Familien sind vielfältig. Sie sind überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen“ (S. 94)
- Es wird ein „Institut für Verantwortungsgemeinschaft eingeführt, damit jenseits von Liebesbeziehungen oder der Ehe es zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglicht wird, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen“ (S. 101)
- „Wenn ein Kind in die Ehe zweier Frauen geboren wird, sind automatisch beide rechtliche Mütter des Kindes…Die Ehe soll nicht ausschlaggebendes Kriterium bei der Adoption minderjähriger Kinder sein“ (S. 101)
- der „frühkindlichen Bildung“ wird ein „Qualitätsentwicklungsgesetz mit bundesweiten Standards“ zugesagt (S. 95)
- Kinder werden „mit einer Kampagne über ihre Rechte und Beschwerdemöglichkeiten informiert“ (S. 98)
- Prävention und Kinderschutz sollen gestärkt werden, wofür eine „kindersensible Justiz sorgen“ wird (S. 99) und
- den Kindern wird zugesagt, ihnen „ein eigenes Recht auf Umgang mit den Großeltern und Geschwistern zu geben“ (S. 102).
Und schließlich heißt es in dem Unterkapitel „Reproduktive Selbstbestimmung“ (S. 116):
- Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen
- Schwangerschaftsabbrüche sollen Teil der ärztlichen Aus – und Weiterbildung werden; sie sind kostenfrei
- „Gehsteigbelästigungen“ werden „wirksame gesetzliche Maßnahmen entgegengesetzt“
- Schwangerschaftskonfliktberatungen sollen auch zukünftig online möglich sein
- der § 219a wird gestrichen
- „Die Forschungsförderung für Verhütungsmittel für alle Geschlechter“ wird angehoben
- Künstliche Befruchtung wird „unabhängig von medizinischer Indikation, Familienstand und sexueller Identität förderfähig sein“
- „Die Kosten der Präimplantationsdiagnostik werden übernommen“
- „Embryonenspenden im Vorkernstadium sind legal“, und
- es wird „eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ eingesetzt, die „Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches sowie Möglichkeiten zur Legalisierung der Eizellspende und der altruistischen Leihmutterschaft prüfen wird“.
3. Die Unterschiede zwischen christlichem Menschenbild und den Vorstellungen der Regierung
3.1 Ehe und Familie
Die Auffassungen der Ampel-Koalition über Ehe und Familie stehen nicht nur im Widerspruch zur Hl. Schrift, in der es heißt: „Gott schuf Mann und Frau“, und zwar „nach seinem Bild“ (Gen 1,27) schuf er den Menschen, sondern auch zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von Juni 2012, in dem es heißt: „Die Ehe als allein der Verbindung zwischen Mann und Frau vorbehaltenes Institut erfährt einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Schutz“, der in Art. 6(1) unseres Grundgesetzes wie folgt formuliert ist: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung,“
Zur Vermeidung der letzten Zweifel, ob mit Ehe tatsächlich die von uns gemeinte heterosexuelle Ehe von Vater, Mutter und Kind ist, schreibt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans–Jürgen Papier, in seinem Buch „Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“: „Das Bundesverfassungsgericht hat…bis zuletzt in seinen Entscheidungen betont, dass eine Ehe im Sinne des Grundgesetzes nur die ‚Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft‘ ist“ (S. 160).
Und was die Kinder betrifft, so bin ich nicht der Auffassung, dass der Staat oder sogar eine Partei „die Hoheit über die Kinderbetten erreichen muss“ (Olaf Scholz). Mut zum Kind halten wir allein schon deshalb für erforderlich, weil der demographische Niedergang unserer Gesellschaft aufgehalten oder sogar umgekehrt werden muss.
Es ist nicht, wie die Ampel-Regierung meint, im Sinne des Kindeswohls, dass Kinder möglichst früh in eine Kita gegeben werden, in der man der Bildung Priorität einräumt, denn in den ersten Jahren ist besonders die Bindung zwischen Mutter und Kind viel wichtiger. Die Erkenntnisse der Hirn- und Bindungsforschung sowie der Sozial-Pädiatrie haben uns einen eindeutigen Beleg dafür geliefert, dass die personale Bindung eines Kindes seiner Bildung vorausgeht und frühkindliche Erziehung zuerst „emotionale Fürsorge, Zuwendung und Zärtlichkeit ist“ (Jürgen und Martine Liminski, „Die Krippe – nur ein Notbehelf“, in: „Der Fels“, 12/2014, S. 355 – 359).
Und Konstruktionen (von sog. „Familien“) für gleichgeschlechtliche Paare mit Adoptionen oder Genehmigung von Leihmutterschaften sind für jedes Kind, das dadurch ohne Vater oder ohne Mutter aufwächst, mit Defiziten verbunden.
Und trotz aller Bemühungen um das Kindeswohl: Eine gesonderte Einbeziehung von Kinderrechten in unsere Verfassung ist völlig überflüssig, weil diese Rechte längst in unserer Verfassung verankert sind, und zwar besonders in Art. 1 (1): „Die Würde des Menschen ist unantastbar…“ und Art. 6 (1): „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“. Wenn aber dann im Koalitionsvertrag noch zusätzlich erklärt wird, dass
- mit einer Kampagne „Kinder über ihre Rechte und Beschwerdemöglichkeiten“ informiert werden sollen (S. 98)
- der Staat „für eine kindersensible Justiz“ sorgen will (S. 99) und
- den „Kindern „ein eigenes Recht auf Umgang mit den Großeltern und Geschwistern“ gegeben werden soll (S. 102),
dann haben wir doch den begründeten Verdacht, dass der Staat die Absicht hat, sich zusätzliche Rechte zu Lasten der Elternrechte zu erobern, die ihm nicht zustehen.
Kardinal Sarah hat hierzu folgende anschauliche Bewertung abgegeben: „Ich glaube, dass die Familie eine Instanz ist, die der Teufel ganz und gar nicht ausstehen kann. Weil sie der Ort der Liebe und der bedingungslosen Selbsthingabe schlechthin ist, ruft sie seinen Hass und seine Gewalttätigkeit hervor…Weil Gott selbst als Säugling auf die Welt kam, wurde die Unschuld jedes Kindes für Satan unerträglich, spiegelt sie doch die Unschuld Gottes wider“. (Robert Kardinal Sarah/Diat N., Herr bleibe bei uns…, S. 201).
3.2 Stammzellenforschung, Präimplantationsdiagnostik (PID), Leihmutterschaft, Abtreibung und Suizid–Assistenz
Wenn wir weiterhin auf der Grundlage argumentieren, dass unser Leben ein Geschenk unseres Schöpfers ist, weshalb wir es von Anfang an bis zum Ende unseres Lebens in seine und nicht in unsere Hände legen, dann können wir von vornherein allen Manipulationsversuchen am Menschen nicht zustimmen, zumal ja selbst eine Leugnung biologischer Tatsachen zu keinem anderen Ergebnis in Bezug auf unsere Natur führt. Es gibt nach wie vor Ei – und Samenzellen, eine 3. Zellgruppe hat die Wissenschaft bisher nicht erforscht.
Deshalb halten wir die Aussage von Sven Lehmann, dem Staatssekretär und „Beauftragten der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ – er selbst nennt sich lieber „Queer – Beauftragter“ – der behauptet: „Welches Geschlecht ein Mensch hat, kann kein Arzt von außen attestieren“ für groben Unsinn. Dasselbe gilt für das geplante „Selbstbestimmungsrecht“, das jedem Menschen ermöglichen soll, einen jährlichen eigenen Eintrag seines Geschlechtes und seines Vornamens beim Standesamt zu erklären. Auch dies passt nach unseren Vorstellungen nicht in unser Bild von Menschenwürde auf der Grundlage christlicher Ethik.
3.2.1 Stammzellenforschung
Menschliches Leben beginnt mit der Empfängnis, also mit der Verschmelzung von Samenzelle und Ei. Alle Argumente für die Festsetzung eines anderen Beginns – egal, ob Nidation, Beginn der Gehirntätigkeit, Schmerzempfindlichkeit, Lebensfähigkeit oder Geburt – überzeugen nicht, weil sie immer willkürlich bleiben. Manfred Spieker z. B. hat in seinen Publikationen hierauf deutlich hingewiesen und betont, dass Forschung mit embryonalen Stammzellen immer Tötung von Embryonen bedeutet. Ethik des Heilens und die Forschungsfreiheit können nicht das Recht für sich beanspruchen, Unschuldige zu töten, weil auch sie eine Menschenwürde haben, die immer Vorrang hat (s. hierzu bes.: Der verleugnete Rechtsstaat. Anmerkungen zur Kultur des Todes in Europa und Biopolitik. Probleme des Lebensschutzes in der Demokratie, Hg.).
3.2.2 Präimplantationsdiagnostik (PID)
Bei der PID werden Embryonen gezielt auf genetische Anlagen und Defekte untersucht. Man handelt also so, als ob der Embryo eine Sache ist, die man verwerfen kann und den man nicht wie eine Person behandelt, die Schutz verdient. Das heißt, dass naturwissenschaftliche Überlegungen und nicht ethische Grundwerte im Vordergrund stehen. Da künstlich erzeugte Embryonen vor dem Einpflanzen in den Mutterleib auf mögliche Defekte untersucht, d. h. mittels einer Selektionsmaßnahme einer Qualitätskontrolle unterzogen werden, hängt von ihrem Ergebnis immer ab, ob sie implantiert oder vernichtet werden.
Allein eine mögliche Behinderung ist schon Grund und Anlass, den Embryo zu zerstören, obwohl hier keine Notstandssituation für die Mutter vorliegt. Weder die Menschenwürde noch das Diskriminierungsverbot gegenüber Behinderten und auch nicht die Tatsache, dass die PID kein gesundes Kind garantieren kann, sind ein Schutzschild für den Embryo, denn einzig und allein Eltern und Reproduktionsmediziner befinden über dessen Lebensrecht. Und das heißt, dass andere darüber entscheiden, ob ein behindertes menschliches Wesen lebenswert und für seine Eltern zumutbar ist oder nicht. Im Übrigen verstößt diese Methode auch gegen die Artikel 1 bis 3 unseres Grundgesetzes (Menschenwürde, Recht auf Leben und Diskriminierungsverbot Behinderter) und öffnet, ob gewollt oder nicht, das Tor zur Eugenik.
3.2.3 Leihmutterschaft
Wer, wie die Ampel-Regierung, eine „reproduktive Selbstbestimmung“ will, muss sich auch mit der Frage beschäftigen, wie man allen nicht heterosexuellen Partnerschaften, die ein Kind wünschen, eine solche Möglichkeit schafft, weil ihnen selbst dieser Weg ja nicht offensteht. Die Regierung erklärt hierzu: „Wir wollen ungewollt Kinderlose besser unterstützen. Künstliche Befruchtung wird diskriminierungsfrei auch bei heterologer Insemination, unabhängig von medizinischer Indikation, Familienstand und sexueller Identität, förderfähig sein“ (Koalitionsvertrag, S. 116). Wenn jeder Mensch in totaler Freiheit sein Geschlecht selbst bestimmen kann, bedeutet dies, dass „Frausein“ und „Mannsein“ das Ergebnis einer Selbstdefinition sind. Und der Kinder-Wunsch kann dann durch Adoption oder durch Leihmutterschaft erfüllt werden. Dieser Begriff „Leihmutterschaft“ vernebelt übrigens die Realität, denn „hier wird ja keine Mutter geliehen, sondern eine Frau im wahrsten Sinne des Wortes zum Brutkasten degradiert“ (Birgit Kelle).
Die Ampel-Regierung wird die Leihmutterschaft in Deutschland sehr wahrscheinlich gesetzlich ermöglichen. Aber auch diese Methode widerspricht der menschlichen Würde und unseren christlichen Grundwerten.
3.2.4 Abtreibung
Der von der Regierung benutzte Begriff „Schwangerschaftsabbruch“ ist falsch, weil man „Abbrüche“ wieder aufbauen kann, aber Schwangerschaften werden beendet, und nicht abgebrochen. Diese Schwangerschaftsbeendigungen sollen nach dem Ziel der Regierung
- das Selbstbestimmungsrecht der Frauen stärken
- Teil der ärztlichen Aus– und Weiterbildung werden und schließlich
- sollen alle Beendigungen von Schwangerschaften einer verlässlichen Gesundheitsversorgung dienen und kostenfrei sein.
„Gehsteigberatungen“ werden wirksame gesetzliche Maßnahmen entgegengesetzt, Schwangerschaftsberatungen sollen auch zukünftig online möglich sein.
Inzwischen hat der Deutsche Bundestag am 24. Juni den § 219 a StGB gestrichen und gleichzeitig wegen dieses neuen Gesetzes – § alle Verurteilungen von Ärzten seit 1990 aufgehoben. Die Bundesfamilienministerin, Lisa Paus (Grüne), hat bereits den nächsten Schritt angekündigt, nämlich eine Kommission zu berufen, die klären soll, wie man den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des StGB regeln kann.
Ich stimme Reinhard Müller uneingeschränkt zu, der in einem Kommentar in der „FAZ“ (25. 06. 2022) die Streichung dieses § und die weiteren Absichten der Bundesregierung als einen „ideologischen Zwangstrip“ bezeichnet hat. Jeder schwangeren Frau, die in eine Not gerät, muss unsere Sorge gelten, aber nie ohne Berücksichtigung des ungeborenen Kindes.
Abschließend zu diesem Kapitel noch ein klares Wort von Mutter Teresa aus ihrer Nobelpreisrede vom 10. 12. 1979: „Ich habe eine Überzeugung, die ich Ihnen allen mitteilen möchte. Der größte Zerstörer des Friedens ist heute der Schrei des unschuldigen, ungeborenen Kindes. Wenn eine Mutter ihr eigenes Kind in ihrem Schoß ermorden kann, was für ein schlimmeres Verbrechen gibt es dann noch, als wenn wir uns gegenseitig umbringen“ (zit. In Robert Kardinal Sarah/Diat, Nicolas, Herr bleibe bei uns…, a. a. O., S. 224).
3.2.5 Suizid-Assistenz
Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 26. Februar 2020 (übrigens an Aschermittwoch), das jedem Menschen das Recht zusprach, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, hatte den Gesetzgeber zur Veränderung des bestehenden Gesetzes aufgefordert.
Der Deutsche Bundestag hat am 24. Juni d. J. 4 Anträge, davon 3 Gruppenanträge, diskutiert, die unterschiedliche Auffassungen und Zielsetzungen präsentierten. Die Bandbreite geht aus von der Warnung davor, dass Selbsttötung zu einem Normalfall wird, über die legislative Absicherung eines selbstbestimmten Todes mit der Klarstellung, dass die Hilfe zur Selbsttötung straffrei bleibt, weiter über die Forderung eines Gesetzes zum Schutz des Rechtes auf ein selbstbestimmtes Sterben mit vorherigen Beratungen bis hin zur Stärkung der Suizidprävention. Die abschließende Entscheidung wird wahrscheinlich im Oktober fallen.
Auch zum Abschluss dieses Kapitels lasse ich gerne Mutter Teresa zu Wort kommen, die uns beispielhaft berichtet, wie man mit Sterbenden umgehen kann: „Ich vergesse es nie, wie ich einst einen Mann von der Straße auflas. Er war mit Maden bedeckt. Sein Gesicht war die einzige Stelle, die sauber war. Ich brachte den Mann ins Heim für Sterbende, und er sagte nur einen Satz: ‚Ich habe wie ein Tier auf der Straße gelebt, aber nun werde ich wie ein Engel sterben, geliebt und umsorgt‘. Und er starb wunderschön. Er ging heim zu Gott. Der Tod ist nichts anderes als ein Heimgang zu Gott“ (Nobelpreisrede von Mutter Teresa, zit. u. a. in: Robert Kardinal Sarah/Diat, Nicolas, Herr bleibe bei uns… a. a. O., S. 229).
3. Schlussbemerkungen
Meine Damen und Herren,
zwischen unserem christlichen Menschenbild und dem der Bundesregierung gibt es kaum Übereinstimmungen: Nach ihren Zielsetzungen ist die seit vielen Jahren gelebte heterosexuelle Ehe ebenso in Gefahr wie der Schutz des ungeborenen Lebens. Auch wenn man zusätzliche „Verantwortungsgemeinschaften“ will, was gibt es für einen Grund dafür, dass man die bei uns in großer Zahl nach wie vor gelebte traditionelle Ehe als Bedrohung oder als überholt ansieht?
Wir brauchen auch keine Organisationen, die unsere Kinder zum Sex anleiten, teilweise sogar schon in Kitas und in vielen Grundschulen. Wir brauchen schon gar nicht eine Gender-Ideologie, weil wir an die Schöpfungstheologie glauben. Deshalb achten wir auch das ungeborene Leben, weil für uns jedes Leben ein Geschenk Gottes ist.
Wir vermögen daher auch nicht zu begreifen, dass ein Fortschritt darin liegen soll, Kinderrechte für geborene Kinder auszuweiten, aber den Ungeborenen kein Existenzrecht einzuräumen. Wir sind auch gegen Verachtung von Behinderten, gegen alle Arten von Vernachlässigung alter Menschen sowie gegen Selbstmord und gegen die Zulassung von gewerblicher Assistenz dazu. Und wir sind auch gegen gleichgeschlechtliche „Ehen“ mit dem Recht auf Adoption und sog. Leihmutterschaften, gegen zahlreiche Geschlechter-Identitäten in Selbstdefinition und gegen die Entwürdigung der Liebe zum sexuellen Lustprinzip.
In ihrer lesenswerten Schrift „Dein Leib – Dein Zuhause. Über die Wahrung von Geist und Körper“ weist Gabriele Kuby überzeugend darauf hin, dass „sich als Ebenbild Gottes erkennen oder sich selbst zum Gott machen“… darüber entscheidet, „ob der Mensch eine absolute Instanz über sich anerkennt, oder ob er sich selber zum Maß aller Dinge macht“ (S. 8; weitere Anmerkungen aus diesem Buch sind zitiert mit G. K. und entsprechender Angabe der Seitenzahlen). Tut er das Letztere, dann anerkennt er auch keine Binarität der Geschlechter, dann lehnt er seinen Körper ab, so wie er ihn von Gott empfangen hat und macht aus dieser Leibfeindlichkeit mit ihm, was er will (G. K., S. 43 f.).
Dass 14-Jährige bald das Recht bekommen sollen, auch gegen den Willen ihrer Eltern ihr Geschlecht zu ändern, sieht der bereits zitierte Sven Lehmann nicht als Problem an, weil die Jugendlichen „seit Jahren wissen, dass das ihnen zugewiesene Geschlecht nicht ihrer Identität entspricht“. So leichtfertig geht heute ein grüner Regierungsbeauftragter mit fundamentalen Problemen von Eltern wegen einer meistens irreversiblen Entscheidung ihrer Kinder im Pubertätsalter um (s. hierzu besonders „FAZ“ vom 23. 03. 2022).
Wo ist denn in diesem Gesellschaftsbild der Ampel-Regierung der angekündigte Fortschritt? Es ist stattdessen ein fundamentaler Angriff auf die Anthropologie unserer christlichen Religion, der der Zukunft unserer Gesellschaft schaden wird.
Meine Damen und Herren,
worin besteht nun unsere Aufgabe? Sie besteht darin, für die Wahrheit, die von Gott kommt und die wir vertreten, mutig einzutreten und für unsere Standhaftigkeit immer wieder zu beten. Denn die Wahrheit Jesu Christi kann man annehmen oder ablehnen, aber verändern kann man sie nicht. Wir dürfen nicht verzweifeln, dass wir eine „kleine Herde“ geworden sind, die Sauerteig sein will, der „heilige Rest“, von dem Jesaja spricht (Jesaja 28, 5 – 22).
Auch wenn in unserer Gesellschaft, die von Glaubensferne geprägt ist, die Zahl der Unterstützer für ein christliches Bekenntnis abgenommen hat und noch weiter abnehmen wird, kann uns vielleicht der Evangelist Lukas ermutigen mit seiner wunderbaren Verheißung: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es hat euerem Vater gefallen, euch das Reich zu geben“ (Luk 12, 32).
Ich schließe mit 2 Zitaten:
- Nach dem Großbrand in Notre-Dame de Paris am 15. April 2019 hat genau 2 Monate später der damalige Erzbischof von Paris, Michel Aupetit, dort wieder in den Trümmern mit Schutzhelm die 1. Hl. Messe gefeiert und in seiner Predigt gesagt: „Das Wort katholisch ist kein Schimpfwort. Warum denn sollen wir nicht von Gott sprechen? Warum sollen wir schweigen? Wir schämen uns nicht, Christen zu sein“ (zit. in: „Die Tagespost“, 19. 06. 2019). Und
bezüglich der Methode, uns daran mit Freude zu orientieren, kann uns vielleicht Bernhard von Clairvaux behilflich sein mit seiner Weisheit: „Der Glaube der Frommen vertraut, er diskutiert nicht“ (zit. in: Gorissen, Burkhardt, Gesellschaft ohne christliche Identität – Die Orientierung fehlt, S. 146).
Ich danke Ihnen!
ENDE des Redemanuskripts
Eingebettete Links von der Conservo-Redaktion hinzugefügt.
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Prof. Dr. Werner Münch war von 1991 bis 1993 Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, zuvor Rektor und Präsident aller kirchlichen Hochschulen in Deutschland und Mitglied im Europäischen Parlament. Eine ausführliche Biographie findet sich auf Wikipedia.
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