Michael van Laack
Wissen lässt sich erwerben, Weisheit nicht! Über Corona wissen viele manches und noch mehr geben vor, alles zu wissen. „Quot capita tot sensus.“ So viele Köpfe, so viele Meinungen. Und darin liegt der Kern des Problems. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, doch darf Meinung weder zum Selbstzweck erhoben werden noch sollte der Einzelne seine Meinung als unverrückbare Wahrheit – als Dogma – verstehen.
Und schon gar nicht sollte man aus der Addition vieler verschiedener Meinungen den Schluss ziehen, dass – so lange die Wahrheit nicht gefunden sei – es keinen richtigen Weg gäbe und deshalb alle im status quo zu verharren hätten. Sich also niemand auf einen gangbar erscheinenden Weg machen dürfte, weil dieser ein falscher sein könnte.
HINWEIS: Diesen Artikel habe ich zuerst am 15.10.2020 auf Philosophia Perennis veröffentlicht. Also mehrere Wochen vor Beginn der Covid-Schutzimpfungen. Seine Gültigkeit hat er jedoch aus meiner Sicht durch die Entwicklung nicht verloren. Deshalb erscheint er hier unverändert, lediglich um einen neuen Schlussabschnitt bereichert. Der ein oder andere Bezug mag mittlerweile gut gealtert sein. Aber – wie ich fürchte – werden wir ab Herbst neben der Energiekrise auch mit manchen dieser Probleme (Maskenpflicht, Absagen von Großveranstaltungen usw.) erneut konfrontiert.
Was ist Freiheit?
„Macht ist Pflicht – Freiheit ist Verantwortlichkeit.“ schrieb die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner Eschenbach mal in ihr Tagebuch. In diesen Monaten stellt sich beim Thema Corona immer wieder die Frage: Geht es der Bundesregierung, den Ministerpräsidenten und anderen Entscheidern um Macht oder Freiheit? Handeln sie so, wie sie handeln, um die Fülle ihrer Macht bei möglichst vielen Gelegenheiten den Bürgern gegenüber zu demonstrieren? Folgen sie gar einem Masterplan?
Schaffen sie – wie manche „Wissende“ uns glauben machen wollen, einen Corona-Mythos, um den Aufbau eines totalitaristischen Europa-Regimes oder gar der Weltherrschaft zu beschleunigen? Üben sie ihre Macht also nicht nur nicht aus Pflichtbewusstsein aus, sondern missbrauchen sie? Dass aus Macht Pflichten erwachsen, dürfte unstrittig sein, wie uns die nicht mehr ganz so neue Erkenntnis „Kapital verpflichtet“ immer wieder vor augen hält. Denn Kapital ist Macht. Geld stinkt nicht nur nicht, es steuert. Doch über der Pflicht, Kapital so einzusetzen, dass es sich a) vermehrt und b) auch zum Gemeinwohl beiträgt, steht die Freiheit des Einsatzes.
Würde z. B. ein Berater einem Multi-Milliardär erklären: „Wenn wir morgen einen begrenzten Atomschlag gegen Nord-Schmierland führen, werden weltweit die Aktienkurse um 50 % steigen. Wir könnten dann unsere Aktienpakete sofort abstoßen und mit dem erwirtschafteten Gewinn soziale Projekte in Deutschland fördern.“, dann könnte der Milliardär antworten: „Prima! Es ist ja meine Pflicht, die Macht meines Kapitals effektiv zu nutzen. So machen wir das. Harry, hol schon mal den Bomber!“ Ein Mächtiger aber, der verstünde, was Freiheit ist, würde aus Verantwortung gegenüber den Nord-Schmierländern nicht zulassen, dass auf deren Tod besseres Leben für Sozialhilfe-Empfänger aufgebaut wird.
Macht und Freiheit liegt in jedem Individuum
Viele Seuchen und Virus-Erkrankungen sind schon über die Welt gezogen. Doch noch nie ist eine davon so sehr ins Bewusstsein der Bevölkerung zahlreicher Länder eingedrungen. Sehr viele Menschen verstehen deshalb nicht, warum diese jetzt bei Corona anders ist. Das Misstrauen gegen Politiker wächst in vielen Ländern. Allerdings ist es in kaum einem so groß wie in Deutschland. Das mag auch daran liegen, dass nicht wenige Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre (Euro, Bankenrettung, Energiewende, Flüchtlingswelle) in Deutschland überproportional Misstrauen gegen die eigene Führung ausgelöst hat.
Aus Sicht vieler, die sich seit Jahrzehnten mit nichts anderem als Viren und Epidemien beschäftigen, ist Corona anders. Resistenter gegen Temperatur-Schwankungen, gefährlicher für die Lunge, tödlicher für vorgeschädigte Menschen und – wie neueste Erkenntnisse zeigen – mit einer Reihe von Spätfolgen behaftet. Und doch wissen wir vieles, was über das Virus verlautet wird, noch nicht sicher.
Das erzeugt Unsicherheit und Zweifel. Warum sollen wir Opfer bringen, wo doch Corona vielleicht nicht gefährlicher ist als eine Grippe? Warum sollen wir uns gentechnisch hergestellte Impfstoffe spritzen lassen, Masken tragen, Abstand halten, auf Partys verzichten, keine Weihnachtsmärkte besuchen, unseren Vereinen nicht zujubeln in den Fußballstadien? Und sogar Distanz wahren zu Menschen, die wir lieben und die uns lieben: Väter und Mütter, Omas, Opas, erwachsene Geschwister. Warum das alles?
Wissen lenkt, Weisheit denkt!
Schon kehre ich zum Beginn des kurzen Artikels zurück. Viele Zeitgenossen verwechseln ihre Meinung mit Wissen und begründen damit die Ausübung ihrer individuellen Macht. Sie kaschieren sie gar als Pflicht zum Widerstand gegen jene, die sie der Freiheit insgesamt berauben wollten. Innere Freiheit kennen sie nicht! Für sie bedeutet Freiheit, zu jeder Zeit an jedem Ort das Tun und Lassen zu können, was sie möchten. Verantwortliches Umgehen mit der Freiheit? „So lange ich doch niemandem schade!“, sagen sie. Doch ist „Schaden anrichten“ für so Denkende immer etwas Sichtbares. Z. B. wenn sie sehen, dass durch ihr Verhalten jemand verletzt wird. Oder sein Eigentum beschädigt bzw. vermindert wird.
Doch die eigene Freiheit einschränken lassen durch Verordnungen? „Das geht nicht, weil ich entscheide, was richtig und was falsch ist. Die Verteidigung der Freiheit ist meine höchste Pflicht!“ Und da liegt der Irrtum, denn „Macht ist Pflicht, Freiheit ist Verantwortung“. In jeder Gemeinschaft sind Menschen voneinander abhängig und ebenso gegenseitig füreinander verantwortlich: in der Familie als Keimzelle der Gesellschaft, in einer religiösen Gemeinschaft, im Unternehmen, in Städten und Ländern.
Die Pflicht der Mächtigen – Die Verantwortung der Freien
Und so ist eine Regierung als zeitlicher Inhaber von Macht verpflichtet, Schaden abzuwenden von jenen, die sie regieren. Freilich muss auch sie Güterabwägungen treffen, weshalb die primäre Frage lauten muss: „Welche Einschränkungen sind zur Gefahrenabwehr notwendig, was ist verantwortbar?“ Und erst sekundär die Frage: „Was ist zumutbar?“ Denn alles ist zumutbar, was der Abwehr einer Gefahr dient. Es sei denn, aus einer Zumutung würde eine größere Gefahr erwachsen. Mit Blick auf Corona z. B. mehrfacher Lockdown der Wirtschaft.
Wir nun (die Bürger), die wir innere und äußere Freiheiten besitzen, tragen große Lasten. Jeder Einzelne von uns. Um die innere Freiheit bewahren zu können, müssen wir in Verantwortung für den Nächsten auf äußere Freiheiten verzichten. Corona ist kein Spiel. Um Deutschland herum stehen aktuell mehrere Volkswirtschaften am Abgrund. „Das ist uns egal!“, höre ich viele sagen. „Das machen die nur, um eine Diktatur zu errichten. Wir wissen das sicher!“ Und schon sind wir bei der Artikelüberschrift angelangt: „Jetzt ist Weisheit mehr gefragt als Wissen!“. Schwarm-Intelligenz gibt es nicht. Und selbst, wenn sie verifizierbar existieren sollte, so ist vieles von dem, was aktuell als dem Wissen entnommene Argumente gegen die Corona-Restriktion bezeichnen, bestenfalls Schwarm-Meinung.
Gegen den Mangel an Weisheit gibt es keine Impfung
Woran es den vielen mangelt, ist Weisheit. Weise handeln fürsorglich um das Wohlergehen nicht nur des Nächsten besorgt, sondern das Leben allgemein höher schätzend als jedes andere Gut. Denn nicht jener ist wirklich frei, dem die eigene Freiheit über alles geht, sondern jener, der das Leben und die Gesundheit (vor allem das Leben) Dritter für genauso wertvoll erachtet, wie sein eigenes. – Sollte sich vielleicht in ein oder zwei Jahren herausstellen, dass all diese Maßnahmen unnötig und/oder unwirksam waren, mag man jene zur Verantwortung ziehen, die falsche Entscheidungen getroffen haben. Insofern sich nachweisen lässt, dass sie diese Entscheidungen absichtlich falsch getroffen haben und nicht auf Basis der ihnen bekannten Informationen.
Mein Großonkel Boleslaus, in den 60er bis 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Regens des Priesterseminars der Steyler Missionare in Juiz de Fora bei Sao Paolo, sagte mir einmal sehr pragmatisch: „Schau, ich glaube an Gott und halte mich an die Lehre Christi und der Kirche. Wenn das alles wahr ist, wenn Gott existiert und so ist, wie wir ihn glauben, dann werde ich nach meinem Tod bei ihm sein, weil ich ihn liebe und er darum weiß. – Wenn aber die Atheisten recht haben und es keinen Gott gibt, so habe ich nichts verloren, wenn ich an ihn geglaubt habe. Denn weder der Atheist noch ich wissen dann noch um unsere entweder entsagungsreiches oder ausschweifendes Leben.“
Nicht der Weisheit, aber des Artikels letzter Schluss
Auf die aktuelle Lage angewendet: Ich glaube, dass sich durch die Impfung die Anzahl schwerer Verläufe bis hin zum Tod verringern lässt; auch bin ich davon überzeugt, dass Abstandsregeln und Veranstaltungsabsagen das Risiko einer Ansteckung deutlich minimieren. Wenn sich in einigen Jahren herausstellt, dass ich richtig lag, wird nicht bis zum Ende meines irdischen Lebens der Zweifel an mir nagen, ob ich nicht vielleicht bewusst zu wenig getan habe, um meine Mitmenschen zu schützen.
Würde sich aber herausstellen, dass die Maßnahmen nicht notwendig waren, was hätte ich dann verloren? Mehr Nähe? Zu wem? Zu Leuten in übervollen Gaststätten, die mich schon in Vor-Corona-Zeiten genervt haben? Zu anderen Supermarktkunden in der Kassenschlange vor mir, deren Knoblauchschweiß-Geruch ich eh nie prickelnd fand? Gemeinschaft im Fußballstadion, um Millionäre dafür zu bejubeln, dass sie öffentlichkeitswirksam für sich arbeiten und neben bei die BLM- sowie LGBTIQ-Ideologie verbreiten?
Aktueller Nachtrag
Der Verlust mancher “Freiheiten” (ich würde sie übrigens aus heutiger Sich rückschauend “Möglichkeiten” nennen), hat auch mir in den Lockdown-Zeiten wehgetan, keine Frage. Auch nervt das Tragen einer Maske. Vor allem dann, wenn uns Bilder geliefert werden, wie zuletzt beim CSD in Berlin und gleichzeitig ernsthaft noch in manchen öffentlichen Verkehrsmitteln verlangt wird, Maske zu tragen. Dies und manches andere (Impfnebenwirkungen z. B.) machen das vor 21 Monaten Geschriebene nicht weniger richtig. Wir brauchen ganz gewiss nicht 80. Millionen devote Diener der Bundesregierung.
Was wir brauchen ist die Fähigkeit Freiheit im übergeordneten Sinn von Möglichkeiten zu unterscheiden. Und vor allem benötigen wir endlich wieder den Willen uns gegenseitig zuzuhören. Seit zweieinhalb Jahren schreiben sich Gegner und Befürworter der Impfung im übertragenen Sinn nur noch an. Keiner will dem anderen das Recht zugestehen, so zu denken und für sich zu entscheiden, wie er es tut. Wenn wir in diesem Herbst nicht aus dem Freund/Feind-Modus herauskommen, werden zwei Krisen mit erheblichen Spaltungspotenzial kulminieren: Corona und Inflation. Das wird unsere Gesellschaft zerreißen und denen helfen, deren Politik wir doch eigentlich mit unserem Widerstand bekämpfen wollen.