Dieter Farwick, BrigGen a.D.*
Mit dem Begriff der „Spezialoperation“ wollte Putin die Begriffe „Krieg“ und „Mobilmachung“ vermeiden. Für seinen Überfall auf die Ukraine hatte er den Umfang der Streitkräfte auf max. 200.000 Soldaten begrenzt. Für ihn sollte das „normale“ Leben in Russland fortbestehen und der Sieg über die Ukraine eine Aufgabe von Tagen sein – nicht von Wochen oder gar von Monaten. Jetzt sind es sieben Monate. Dieses Zwischenergebnis ist für Putin ein Desaster.
In den letzten Tagen und Wochen mehrten sich Stimmen in Russland, dass der Krieg ohne Gesamt- oder Teilmobilmachung nicht mehr zu gewinnen sei. Der „Feldherr Putin“ hat sich wieder total verschätzt. Er ist kein „Feldherr“, der auf einen Stab hört. Er ist Geheimdienstler, der die Größenordnung einer größeren militärischen Operation und deren Charakter aus eigener Erfahrung nicht kennt. Als Alleinherrscher traf er „einsame Entscheidungen“ – ohne Beratung durch einen kompetenten „Generalstab“, den es in Moskau gibt.
Er hatte offensichtlich die Befürchtung, dass die russische Bevölkerung einen „Krieg“ kaum unterstützen würde. Deshalb wurde der Begriff „Krieg“ verboten und seinen Gebrauch mit langen Gefängnisstrafen geahndet.
“Teilmobilmachung” ist ein Synonym für “Krieg”
Es ist bezeichnend für den Charakter Putins, dass er mit Schoigu, der die Teilmobilmachung vorbereitete, schon den „Sündenbock“ festgelegt hat, wenn die Sache schief geht. Es sollen 300.000 Reservisten ausgesucht werden, deren militärische Kenntnisse und Fähigkeiten auf einem akzeptablen Stand sind. Ihre Moral dürfte bescheiden sein.
Welcher Reservist verlässt Beruf und Familie mit Begeisterung bei den hohen Verlustzahlen, die die russischen Streitkräfte zu verzeichnen haben? Die Strafen für Deserteure sind verschärft worden. Teilweise sind Soldaten ohne Waffen, Fahrzeuge und Gerät in Panik geflohen – zur Freude ukrainischer Soldaten, die sich mit deren Bedienung auskennen.
Die nahende Regen- und Schlammperiode wird Bewegungen beider Seiten erschweren. Sie müssen sich auf kleinere Vorstöße beschränken. Sie werden diese Situation für Ausbildung und Personalaustausch in den derzeitigen Stellungen nutzen. Die Rede von Putin vor der UN-Vollversammlung mit der Bekanntgabe einer Teilmobilmachung war weniger ein Signal der Stärke als vielmehr ein Signal der Verzweiflung. Mit den Reservisten entzieht Putin der schwächelnden russischen Wirtschaft wichtige Fachkräfte.
Die Fluglinien, die von Russland visafreie Staaten anfliegen, sind auf Tage ausgebucht. Ein Job in einem visafreien Land ist für junge „Aufsteiger“ attraktiver und sicherer als in einem veralteten russischen Kampfpanzer.
Wer als erster Atomwaffen einsetzt, stirbt als zweiter!
Die Rede des Kriegsverbrechers Putin hätte die verbalen Angriffe gegen den „kollektiven Westen“ – inkl. der erneuten Drohung des Einsatzes von Nuklearwaffen durch Russland – hätten seine weltweiten Unterstützer stutzig machen müssen. Russische Nuklearwaffen machen keinen Unterschied zwischen nationalen Nuklearwaffenpotentialen der einzelnen Nationen.
Es gilt die alte Gleichung: Wer als Erster Nuklearwaffen einsetzt, stirbt als Zweiter. Dieses Wissen hat bislang einen Nuklearkrieg verhindert. Es sollte gepflegt und beachtet werden.
Hat Putin noch eine “Wunderwaffe” im Ärmel?
In den letzten Tagen haben russische Streitkräfte Erfolge mit iranischen Drohnen erzielt – Typ Sheed 123 mit einer Reichweite von 2500 Km Reichweite – beladen mit Sprengstoff. Sie haben illustre Kampfnamen wie z.B. „Kamikaze-Drohnen“, weil sie aus hoher Flughöhe auf ihr Ziel niederstürzen – Abwehr unmöglich.
Solche „Wunderwaffen“ hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Man weiß nie, wie viele Exemplare es tatsächlich gibt und ob die Unverwundbarkeit im Einsatz bestätigt wird. Die US-Streitkräfte haben ähnliche Waffensysteme an die Ukraine geliefert, die die frühere massive Überlegenheit der russischen Artillerie tatsächlich reduziert haben.
Die Reaktionen im Land und den westlichen Staaten: Ein Eigentor!
Weder die Arbeitgeber noch die Arbeitnehmer in Russland sind „begeistert“, besonders wenn es um Kampfeinsätze außerhalb Russlands geht. Die Unternehmen werden auf 300.000 Fachkräfte verzichten müssen.
Die Reaktionen auf Putins Teilmobilmachung waren verhalten. Man kennt seine Ankündigungen, die Realisierung war häufig ein andere Story. Putin hat mit der Teilmobilmachung und seinen Drohgebärden den Behauptungswillen in der Ukraine und in den westlichen Staaten, die Ukraine bisher unterstützt haben, deutlich gestärkt. Eine befürchtete Kriegsmüdigkeit in den „Geberländern“ hat Putin weggewischt.
Die über 100 Staaten der UN-Vollversammlung, die Putin unterstützen, sollten über Putin gründlich nachdenken. Eine Eskalation durch Russland wird auch Länder treffen, die bislang auf Sanktionen gegen den Kriegstreiber Putin verzichten. Somit erreicht Putin mit der Teilmobilmachung, dass besonders die männliche Bevölkerung in Russland versucht, der Einberufung auszuweichen.
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*) Brig. General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen und anschließend Berufssoldat. Einen Höhepunkt seiner Karriere bildete die Tätigkeit im Planungsstab von Bundesverteidigungsminister Dr. Manfred Wörner, wo er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig war. In den 90er Jahren fand er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte Verwendung und war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt. Schon während seiner Dienstzeit verfasste Farwick mehrere Bücher und andere Publikationen zu Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte. Im „Ruhestand“ engagierte er sich viele Jahre als Chefredakteur eines Newsservice für sicherheitsrelevante Themen und organisiert heute noch Tagungen zu diesem Thema an renommierten Instituten.