Peter Helmes
Medikamentenengpässe gibt es in Apotheken, Arztpraxen und Kliniken derzeit vor allem bei Fiebersäften für Kinder, Hustenmitteln, Blutdrucksenkern und Brustkrebsmedikamenten. Auch Antidepressiva, Schmerzmittel, Antibiotika, Fieberzäpfchen und eine ganze Reihe von weiteren Medikamenten für Kinder, die in diesen Tagen besonders stark nachgefragt werden, sind Mangelware.
Arzneimittelengpässe hat es allerdings schon immer gegeben, vor allem in der Zeit von Infektionswellen. Aktuell ist die Arzneimittel-Versorgung so angespannt wie zuletzt 2020. Aber die Politik scheint sehr zögerlich zu reagieren.
Engpässe bei über 300 Medikamenten
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte führt eine Online-Datenbank zu aktuellen Lieferengpässen über Arzneimittel (ohne Impfstoffe) in Deutschland. Diese beruht auf den freiwilligen Meldungen der Pharmazeutischen Unternehmer, also zum Beispiel der Arzneimittelhersteller und listet für 2022 über 560 Erstmeldungen von Medikamenten-Lieferengpässen – davon waren zuletzt noch über 300 aktuell (Stand: 15. Dezember ´22).
Das Wissenschaftliche Instituts der AOK (WIDO) überblickt die Lage bei den Arzneimitteln, die auf Rezept abgegeben werden und betont, daß es sich um Lieferengpässe handelt und nicht um einen umfassenden Versorgungsengpaß. Meistens sind die Medikamente nach wenigen Wochen wieder verfügbar.
Die Lieferengpässe halten schon seit langem an und haben sich wegen der fragilen Lieferketten während der Corona-Pandemie deutlich verschärft. Denn nur noch ein Teil der Medikamente wird noch in Deutschland oder der EU gefertigt. So können überall Engpässe entstehen: beispielsweise bei den Vorprodukten, die aus China kommen, bei der Produktion, die in Indien stattfindet, bei den Blistern für die Tabletten, die aus Osteuropa stammen oder wegen Papiermangels in Bayern, wo alles nochmal umgepackt und mit einem deutschen Beipackzettel versehen wird.
Wichtige Ursache für Versorgungsprobleme ist die Globalisierung
„Die hohe Abhängigkeit Europas von asiatischen Wirkstoffherstellern ist problematisch. Es liegen 68 Prozent der Produktionsorte von bestimmten Wirkstoffen für Europa in Asien“, heißt es in einer Studie des Pharmaverbands VFA. Kommt es also zum Beispiel in China zu Produktions- und Lieferengpässen wegen Fertigungsproblemen, Verunreinigungen oder Produktionsstopps, fehlen hierzulande dringend benötigte Wirkstoffe.
Noch keine Lösung durch die Bundesregierung
Der gesundheitspolitische Sprecher der Union-Bundestagsfraktion, Tino Sorge (CDU), warf Bundesgesundheitsminister Lauterbach vor, zu langsam zu agieren. Das Problem hätte schon vor Monaten angegangen werden können, sagte Sorge im Dlf. Es brauche mehr als ein Eckpunktepapier. Er gehe nicht davon aus, daß es innerhalb der kommenden Monate Änderungen geben werde. Der CDU-Politiker forderte Lauterbach auf, eine Beschaffungs- und Logistikinitiative zu starten. Man müsse sich gemeinsam mit Großhändlern, Pharmaunternehmen, Ärzten und Apothekern an einen Tisch setzen, um schnell und mittelfristig Maßnahmen zu diskutieren.
Flohmärkte für Medikamente in der Nachbarschaft
Die Opposition will generell Neuregelungen und mehr staatliche Kontrolle, um den Einfluß der Pharmaindustrie zu schwächen und die Produktion vor Ort zu stärken – also mehr europäische oder besser noch deutsche Produktionsstätten. Die Union fordert einen „Beschaffungsgipfel“ von Bund und Ländern. Noch vor Jahresende sollten Sofortmaßnahmen für den Winter koordiniert werden. Fiebersäfte, Antibiotika oder Hustenmittel sollten zentral vom Bundesgesundheitsministerium gekauft und verteilt werden.
Der medizinische Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, Prof. Bernhard Wörmann (Berliner Charité), forderte im Dlf einen sechsmonatigen Vorrat an unverzichtbaren Medikamenten. Lieferengpässe und das aktuelle Fehlen zweier wichtiger Medikamente in der Krebstherapie wären so vermeidbar gewesen.
Abhängigkeiten müssen verringert werden
Der Pharmaverband VFA befürwortet die globale Verteilung der für ein Arzneimittel benötigten Produktionen, um einzelne Abhängigkeiten innerhalb der pharmazeutischen Lieferketten zu verringern:
Durch schnelle Genehmigungsverfahren, besseren Zugang zu Wagniskapital und international wettbewerbsfähige Steuersätze für innovative Pharmaunternehmen könnte der Standort Deutschland wieder attraktiver werden.
Die Erklärung von Bundesärztekammer-Chef Dr. Klaus Reinhardt, daß, wer gesund sei, vorrätige Arznei an Kranke abgeben müsse, nimmt der CDU-Bundestagsabgeordnete und Gesundheitsexperte Erwin Rüddel zum Anlaß, sich dezidiert zu diesem Thema zu äußern.
„Wir brauchen so was wie Flohmärkte für Medikamente in der Nachbarschaft“, war der Chef der Bundesärztekammer zuvor in der Presse zitiert worden. Gesundheitspolitiker Rüddel kann das in der jetzigen Situation zwar nachempfinden, aber dabei handele es sich um eine Idee, die wohl kurzfristig helfen könne, aber nicht nachhaltig sei.
Faktoren des Preis- und Kostendrucks der Krankenkassen
„Hier brauchen wir ein konsequentes Umdenken“, fordert Rüddel, der sich sicher ist, daß wir in Deutschland eines der weltbesten Gesundheitssysteme haben, dieses aber so langsam an seine Belastungsgrenzen kommt, zumindest wenn man Innovationen zügig zur Verfügung stellen und gleichzeitig die Krankenkassenbeiträge in einem vertretbaren Rahmen belassen will. Diese Situation sei ursächlich für einem enormen Preis- und Kostendruck bei Krankenkassen und Unternehmen.
Diese Rahmenbedingungen haben dazu geführt, daß nicht mehr patentgeschützte, generische Medikamente aus Kostengründen zu fast 100 Prozent in Indien und China produziert werden. Dies führt jetzt zu Engpässen aufgrund von Schwierigkeiten durch die Lieferketten.
konstatiert der christdemokratische Parlamentarier, der hierbei das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht sieht.
Fast 400 Medikamente seien derzeit nicht immer sicher verfügbar und dies bei weiter steigender Tendenz. Besonders dramatisch sei es momentan bei Medikamenten gegen Atemwegserkrankungen für Kinder. Erwin Rüddel sieht hier die Politik und Medizin gefordert.
„In einem ersten Schritt muß die Medizin definieren, welche generischen Medikamente und Wirkstoffe existenziell für die Versorgung unserer Bevölkerung sind. Dann muß die Politik die Rahmenbedingungen festlegen, daß sich deren Produktion wieder in Deutschland und Europa rechnet. Diese dann entstehenden höheren Kosten und Belastungen müssen vertretbar zwischen Staat und Versichertengemeinschaft aufgeteilt werden. Dies sollte uns allen eine sichere und nachhaltige Versorgung mit Medikamenten und Wirkstoffen wert sein. Dazu muß die Politik jetzt schnell und konsequent handeln“, bekräftigt Erwin Rüddel.