Putins Größenwahn und die Schieflage des geopolitischen Gleichgewichts

Dieter Farwick, BrigGen a.D und Publizist*

Das Jahr 2022 war in vielfältiger Wahrnehmung ein schwieriges Jahr. Der Hauptschuldige an der globalen Misere ist der russische Präsident Putin mit seinem völkrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine – mit weltweiten Turbulenzen, unter denen Milliarden weltweit gelitten haben – und noch heute leiden. Für ihn war der Angriff nur eine kurze Angelegenheit von Tagen. Aber er hat sich in seinem Größenwahn gewaltig verzockt.

Die ukrainischen Streitkräfte und ihre Bevölkerung haben einen Behauptungs- und Verteidigungswillen gezeigt, der von etlichen Staaten großzügig politisch, finanziell und militärisch unterstützt wurde. Die NATO hat sich als Bündnis-, nicht als Kriegspartei engagiert, jedoch haben sich einige Mitgliedsstaaten ohne NATO-Mandat bis heute angemessen an der Unterstützung der Ukraine beteiligt. Deutschland hat allerdings an Ansehen verloren. Der Bundeskanzler hat einige Maßnahmen angekündigt, aber zeitlich und inhaltlich nicht eingehalten. Als Erklärung sprach er sich gegen „nationale Alleingänge“ aus, was nicht sehr überzeugend war.

Im Januar 2023 wurde der Bann gebrochen

Die USA und Frankreich forderten, dass die Geräte und Waffensysteme, die die Ukraine mehrfach erbeten hatte – gepanzerte Kampfpanzer und Schützenpanzer sowie gepanzerte Flugabwehrsysteme – die beteiligten NATO-Staaten die Anfragen der Ukraine positiv beantworten sollten, als Antwort auf die Bombardierungen Russlands gegen ungeschützte Wohnblocks und Energieversorgungseinrichtungen mit vielen Toten und Verwundeten.

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika gingen als leuchtendes Beispiel mit effizienten Geräten und Waffensystemen voran. Deutschland ließ sich wieder mehr Zeit für deren Bereitstellung. Die Unterstützung Deutschland durch die Aufnahme von Tausenden ukrainischer Flüchtlinge  wurde weltweit positiv aufgenommen – wie auch die reibungslose  Integration von Fachkräften. Die von einigen Politikern befürchtete „Kriegsmüdigkeit“ einzelner Staaten mit Auswirkungen auf Hilfeleistungen ist kaum eingetreten. Zu den Folgen für Russland später mehr.

Auswirkungen für die beiden Weltmächte USA und China

Zur Enttäuschung des russischen Präsidenten hat sich China distanziert und zurückhaltend gezeigt. Augenscheinlich war das Risiko in den Augen vom Präsidenten XI Jinping zu hoch, gegen Chinas Interesse in den Krieg seines „Juniorpartners“ hineingezogen zu werden, zumal China eigene politische und militärische Probleme zu bewältigen hatte, die China gefährlich werden konnten.

Ähnlich hat sich der belarussische Diktator Lukaschenko verhalten, der sich an Kampfhandlungen nicht beteiligen wollte, aber russische Streitkräfte auf belarussischem Territorium zu Übungen und Aufmarsch duldete.

Der größte „Feind“ für China wurde die von Xi Jinping verordnete „Zero (Null)-Strategie“ gegen den Virus Covid 19. Diese engstirnige Strategie lähmte die russische Bevölkerung und die chinesische Wirtschaft. Bei geringfügigen Vorfällen wurden Lockdowns, öffentlicher Verkehr und Quarantäne rigoros „abgeschlossen“. Millionenstädte wie Shanghai mit seinen 26 Millionen Einwohnern wurden besonders getroffen.

China: Null Covod war mehr als ein Eigentor

Vor dem Hafen bildeten sich kilometerlange Schlangen. Ein Aus- und Beladen von Frachtschiffen war unmöglich geworden. Viele Arbeitnehmer verließen ihre Schiffe und Arbeitsstätten und  „flohen“ auf das Land zu ihren Familien. Es entstanden Lieferengpässe und Unterbrechungen von Lieferketten in China. Gerade Unternehmen, die die auf Halbleiter angewiesen waren, mussten Produktionen einstellen, was sich auf andere Kontinente negativ auswirkte – wie auch die Automobilindustrie in Deutschland erleiden musste, weil es dort kaum möglich ist, die benötigten Bauteile nicht oder erst später geliefert werden konnten. Manche Räder standen still.

Aufgrund der hohen Verluste in Produktionsstätten weltweit entschied sich Xi Jinping für eine Kehrtwende in der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Er entschied sich für eine „Durchseuchung“  der chinesischen Bevölkerung, weil es auch an Impfstoffen mangelnde, da der Präsident zusätzlich die Behandlungen mit ausländischen Impfstoffen verboten hat.

Es gibt keine offiziellen Zahlen über die infizierten Menschen von der Regierung. Zwei renommierte Weltzeitungen brachten Zahlen von infizierten Menschen im Dezember 2022 von rd. 240.000 Infizierten. Allerdings gibt es in den chinesischen Medien keine Angaben zu Toten. Die langen Schlangen vor den Krankenhäusern lassen Böses ahnen, wenn man die TV-Bilder ansehen kann. Allerdings gibt es noch keine belastbaren Zahlen für die Landbevölkerung, die unter einer schlechten medizinischen Versorgung leidet.

Folgen für die chinesische Wirtschaft

Offizielle Zahlen für etwaige Rückgänge gibt es noch nicht. Soweit erkennbar, hat das chinesische Wirtschaftswachstum deutlich gelitten. Bereits in den vergangenen Jahren waren solche Zahlen „geschönt“.

Sie bedrohen den chinesischen „Generationenvertrag“, der besagt, dass die Regierung durch gutes Regieren den Wohlstand der chinesischen Bevölkerung „garantiert“, was sie in den letzten Jahrzehnten auch geschafft hat – u.a. mit bedenklichen Nebenwirkungen.

Dieses „stille“ Verständnis ist zerstört – kurz nach dem 100jährigen Geburtstag der Kommunistischen Partei. Auch Mitglieder der Kommunistischen Partei müssen sich in ihrem Leben einschränken. Es wird einige Zeit dauern, bis Vertrauen in die Führung wieder hergestellt ist – wenn überhaupt.

Der Konflikt China mit der Insel Taiwan

In den vergangenen Jahren hat Peking offiziell erklärt, dass Taiwan als „abtrünnige Provinz“ Chinas betrachtet wird. China warnt immer wieder, dass es bereit sei, die „Wiedervereinigung“ auch mit Waffengewalt durchsetzen werde, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Es könnte sein, dass Peking einen Angriff auf Taiwan führen wird, um von seinen nationalen Problemen abzulenken.

Wenn die chinesische Regierung auf Taiwan schaut, muss sie zur Kenntnis nehmen, dass die Insel von einem Netz von Staaten umgeben ist, die Taiwan versichert haben, dass sie eine Beistandspflicht bei einem Angriff von Festland-China schriftlich eingegangen sind – unter Führung der USA.

Es gibt immer wieder Zweifel an den USA, ob diese im Falle eines Falles ihre Verpflichtung realisieren würden. Diese Zweifler übersehen, welche militärischen Nachbarn offiziell erklärt haben, dass sie sich an der Verteidigung Taiwan beteiligen würden. – An der Spitze die Vereinigten Staaten, wenn sie zögern würden, verlören sie in Asien ihr auf Dauer ihr „Gesicht“. Den USA ist es in den letzten Jahren gelungen, alte und neue Partner in alten und neuen Bündnissen zu gewinnen.

Die Weltmacht Indien zögert noch mit der Entscheidung, sich einem Bündnis mit den USA anzuschließen. Die Erinnerung an den früheren Präsidenten Nehru, der ein Vertreter der indischen Neutralität war, wird in Indien noch hoch eingeschätzt. Es besteht allerdings wenig Gefahr, dass sich Indien militärisch mit China verbindet.

Hier einige Bündnisse im Pazifik unter amerikanischer Führung:

  1. ANKUS: Australien, Großbritannien und USA
  2. ANZUS: Australien, Neuseeland und USA
  3. USA, Japan und Südkorea
  4. Quad: USA, Australien, Indien, und Japan
  5. ASEAN: Zehn Mitgliedsstaaten: Brunei, Kambodscha, Indien, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam mit 650 Millionen Menschen – seit 2022 USA
  6. „ Five Eyes“: „Spionageforum“ gegen China:  Australien, Kanada, Neuseeland, Großbritannien und USA

Dazu kommen jährliche Übungen in Asien mit wechselnden Teilnehmern. Wichtig ist Vietnam als Nachbar von China.

Russland auf (Selbst-)Zerstörungskurs

Präsident Putin hat seinem Land in mehrfacher Hinsicht schweren Schaden zugefügt:

  • Er ist kein erfahrener „Feldherr“. Er war Jahrzehnte wichtiges Mitglied der Geheimdienste – u.a. auch in Deutschland (Dresden)
  • Er hat keine Truppen geführt.
  • Er hat keine Erfahrung mit der Führung von Soldaten im Gefecht
  • Er hat Entscheidungen getroffen, die gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen.

Diese Entscheidungen können zu einem Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag führen. Darüber hinaus hat Russland hat wichtige Punkte im Ansehen der Weltöffentlichkeit verloren. Seine Schmähreden gegen die nationale Souveränität der Ukraine und die tapfere Bevölkerung sind peinlich und müssten Konsequenzen haben. Sein Verhalten ist erbärmlich.

In der russischen Bevölkerung hat er deutlich an Ansehen verloren. Seine fehlerhafte Kriegsführung wird von hohen Militärs scharf verurteilt. Sie lasten ihm daher auch die hohen Verlustraten an. Die von Putin befohlene „Teilmobilmachung“ entzog der Wirtschaft Fachkräfte. Viele junge Reservisten entzogen sich der Einberufung durch Flucht in das benachbarte Ausland. Es stellt sich die Frage, wie lange Putin sich noch im Amt halten kann.

Zusammenfassung des Jahres 2022

Das Jahr 2022 war ein schlechtes Jahr für die Menschheit: Der Krieg von Russland in der Ukraine, erhöhte Energiepreise, Arbeitslosigkeit, starke Erkrankungen der Atemwege bei Kindern unter 5 Jahren, überfüllte Krankenhäuser, fehlendes Pflegepersonal, fehlende Medikamente…

Es gab dennoch Gewinner und Verlierer. Zu den Gewinnern zählen die Vereinigten Staaten, die ihre Spitzenposition gegenüber China gestärkt haben. Mit kluger Diplomatie können die Vereinigten Staaten der dominante Global Player im Pazifik werden. – Zu den Gewinnern gehört auch Indonesien mit starker muslimischer Bevölkerung, das stabil ist und gut geführt wird.

Indien hat in manchen Bereichen – siehe Bevölkerungszuwachs – China bereits überholt:

  • Indien hat auch die bessere Bevölkerungsstruktur sowie bessere schulische und universitäre Bildung.
  • In der globalen Welt hat Indien Vorteile in der Beherrschung der englischen Sprache.
  • Indien ist nicht besonders ehrgeizig, an die Weltspitze zu marschieren.
  • Indien ist durch die vielfältigen Herausforderungen im eigenen Subkontinent ausgelastet.
  • Indien darf den Rang „Hindustaat“ nicht überziehen.

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben den Wohlstand ihrer Bevölkerung gesichert. In Industrie und Wirtschaft sind sie in der Spitzengruppe – wie auch in der Raumfahrt.

Europa hat an Bedeutung verloren. Es hat unter der hohen Inflationsrate gelitten. Das Streben einiger EU-Politiker – u.a. Ursula von der Leyen und ihres Vize Franz Timmerman – Europa zu einem Bundesstaat zu entwickeln, wird von den meisten Nationalstaaten abgelehnt. Diese bevorzugen das “Europa der Vaterländer“ mit starken Nationalstaaten.

Viele Regulierungseingriffe der EU könnten in den souveränen Nationalstaaten besser und schneller gelöst werden. Die letzte Frage an die Führung der EU ist die Tatsache zweier Tagungsorte in Brüssel und in Straßburg. Da besteht die Notwendigkeit, viel Geld zu sparen und sich auf einen Tagungsort zu beschränken.

Der jährliche Umzug von Dolmetschern und Beamten nach Straßburg kostet viel Geld und schadet der Effizienz der Tagungen. Der Anteil der hochbezahlten Beamten ist zu hoch. Eine Reduzierung der Beamten um 15-20 Prozent wäre angemessen – im Vergleich zu den meisten nationalen Verwaltungen.

Es sind keine Anstrengungen erkennbar, das Jahr 2023 in der EU politisch und finanziell effizienter zu gestalten. Die Misere lebt fort.

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*) Brig. General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen und anschließend Berufssoldat. Einen Höhepunkt seiner Karriere bildete die Tätigkeit im Planungsstab von Bundesverteidigungsminister Dr. Manfred Wörner, wo er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig war. In den 90er Jahren fand er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte Verwendung und war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt. Schon während seiner Dienstzeit verfasste Farwick mehrere Bücher und andere Publikationen zu Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte. Im „Ruhestand“ engagierte er sich viele Jahre als Chefredakteur eines Newsservice für sicherheitsrelevante Themen und organisiert heute noch Tagungen zu diesem Thema an renommierten Instituten.

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