Herwig Schafberg* **
Der 9. November ist ein Datum, das nicht nur mit Erinnerungen an die Maueröffnung in Berlin 1989 verknüpft ist, sondern es erinnert auch an die Reichspogromnacht 1938, in der Synagogen abgefackelt, Geschäfte verwüstet, Juden verhaftet, misshandelt und teilweise getötet wurden. Herwig Schafberg hat die Ereignisse vor und nach 1938 mit solchen von heute verglichen und Berührungspunkte zwischen Islamismus, Antizionismus und Antisemitismus gefunden.
Ereignisse der Reichspogromnacht und Bedrohungen heute
Am 9. November 1938 fand in Deutschland die sogenannte „Reichskristallnacht“ statt, in der allerdings nicht nur Kristall zerbarst, sondern weit mehr zu Bruch ging: Was der von den Nationalsozialisten gelenkte Rundfunk „spontane Volkswut“ nannte, war tatsächlich geplanter Terror von Angehörigen der nationalsozialistischen SA-Massenorganisation: Sie setzten Synagogen in Brand, verwüsteten Geschäfte, die in jüdischem Besitz und vorher dementsprechend mit einem Davidstern markiert worden waren, verhafteten und misshandelten Juden, von denen sie viele töteten. Daher wäre es sachlich angemessen, von einer Reichspogromnacht zu sprechen.
Juden waren in Deutschland schon seit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 systematisch verfolgt worden. Hatten die neuen Machthaber sich zunächst damit begnügt, Fenster von Geschäften jüdischer Inhaber markieren zu lassen, sind Judenfeinde gleich welcher Herkunft, Religion oder Weltanschauung heute schon ein Stück weiter und haben in Berlin Wohnhäuser, in denen Juden wohnen, mit einem Davidstern markiert. Dadurch hat die Bedrohungslage für Juden und solche, die dafür gehalten werden, ein bedrohlicheres Stadium als zuvor erreicht. Bisher haben solche Gewalttäter sich damit begnügt, jüdische Einrichtungen mit Molotow-Cocktails zu attackieren. Sind demnächst auch Wohnungen von Juden Ziele solcher Brandanschläge?
Ein Unterschied zwischen den damaligen und heutigen Verhältnissen besteht darin, dass jüdische Mitbürger bald nach der Reichspogromnacht gezwungen wurden, einen gelben Stern zu tragen, um als Juden erkennbar und so gesehen auch angreifbar zu sein, während es Juden heute freisteht, zu ihrem Schutz jedoch ratsam ist, ihre jüdische Identität zu verbergen – nicht nur, aber auch und vor allem in bestimmten Vierteln deutscher Städte; denn wenn sie sich mit einer Kippa auf dem Kopf oder einem Davidstern an der Halskette in muslimisch sozialisierten Milieus sehen lassen, kann es passieren, dass sie verprügelt oder gar getötet werden.
Pogromartige Verfolgungen in jüngerer Zeit
Dass Juden getötet werden sollten, hört man nicht bloß aus dem Munde einzelner Araber sowie Türken, die das vor laufender Kamera ungenierter bekennen als deutsche Antisemiten, sondern auch aus demonstrierenden Menschenmassen, die sich hierzulande ebenso durch die Straßen wälzen wie in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. In Dagestan stürmte ein aufgehetzter Mob neulich sogar einen Flughafen auf der Suche nach jüdischen Fluggästen, denen sie dort den Garaus machen wollten. Glücklicherweise fanden sie keinen.
Glück hatte auch der Jude, der 2009 eine Israel-Fahne aus einem Fenster seiner Wohnung in Duisburg gehängt hatte, aber nicht daheim war, als vorbeimarschierende Demonstranten sich durch den Anblick dieser Fahne provoziert fühlten und das Haus zu stürmen drohten, die Polizei ihnen allerdings zuvorkam. Um Schlimmeres zu verhindern, stürmten Polizisten die Wohnung und entfernten die Fahne unter dem Jubel des Straßenpöbels.
Die Polizeiführung rechtfertigte das Vorgehen als Beitrag zur Deeskalation. Man könnte es auch als Kapitulation bezeichnen, wenn deutsche Polizisten solch einer Hetzmasse Handlangerdienste erweisen wie einst der SA. Doch ein Unterschied zwischen den Ereignissen in den dreißiger Jahren und denen von 2009 wie auch danach besteht darin, dass wir es in Deutschland nicht mehr mit staatlich gelenkter Hetze gegen Juden zu tun haben, sondern eher mit staatlichem Versagen bei der Bekämpfung von Judenfeindlichkeit.
Hetzmassen mit ihrer Zerstörungssucht
Eine Hetzmasse ist oft auf Zerstörung aus. Und wenn aufgehetzte Massenmenschen auf Israel-Fahnen trampeln und sie verbrennen, dann nehmen sie sich damit sinnbildlich den Staat Israel und den Zionismus vor, der diesen Staat gründete und bekriegt werden müsse. Für viele von ihnen gehören zu diesem Feindbild pauschal Juden – einerlei, ob die in Israel oder woanders leben. Und wehe dem Juden, der solch einer Hetzmasse auf einem Flughafen in Dagestan oder bei uns auf der Straße begegnet; denn in der Masse ist es nicht so riskant, für manche sogar unwiderstehlich, gemeinsam mit anderen einen angefeindeten Menschen umzubringen! Es ist daher besonders für Juden nicht ratsam, der Aufforderung zumeist junger Araber und Türken zu folgen, die massenhaft auf unseren Straßen skandieren: „Jude, Jude, feiges Schwein, komm` heraus und kämpf` allein!“
Die Anfeindungen, von denen sie seit Jahren in Europa betroffen sind, hat Juden verunsichert und viele von ihnen bewogen, nach Israel auszuwandern, weil sie zumindest bis zu den Hamas-Massakern vom 7. Oktober dieses Jahres hofften, dort in größerer Sicherheit leben zu können. Sie wollten und wollen vermutlich auch weiterhin dem Hass und der Hetze jener zumeist arabischen und türkischen Judenfeinde entgehen, die dort gar keine Juden haben wollen. Doch dass sie mit ihrer judenfeindlichen Haltung zum dortigen Anwachsen der jüdischen Bevölkerung beitragen, ist eine Einsicht in Zusammenhänge, die ihnen schwer zu vermitteln ist.
Proteste allein gegen Israel und nicht gegen andere Kriegsparteien
Wie 2009 und in anderen Jahren zuvor und danach geht es auch bei den derzeitigen Massendemonstrationen vordergründig um Proteste gegen die Bombardierungen in Gaza, mit denen die Israelis auf Raketenbeschuss von dort und im Besonderen auf die Massaker sowie Entführungen reagiert haben, die von Hamas-Anhängern und anderen Dschihadisten aus Gaza am 7. Oktober dieses Jahres im Süden Israels begangen wurden.
Sowohl auf Straßendemonstrationen als auch in Zeitungskolumnen sowie Politikerverlautbarungen ist immer wieder die Erwartung zum Ausdruck gebracht worden, dass die Israelis sich an Völkerrechtsverpflichtungen halten mögen. Das ist nicht falsch; auffällig ist jedoch, dass man sich damit bisher kaum an die Adressen der Hamas oder auch anderer Kriegsparteien im Orient gewandt hat, als ob man von denen nicht so viel erwarten würde wie von Israelis.
Ich will Kriegsopfer nicht gegeneinander aufrechnen, gebe jedoch zu bedenken, dass es zwar immer wieder zu Massenprotesten gegen Israels Kriegsführung gekommen ist, es im Vergleich dazu aber nur wenige Menschen zu Protesten trieb, wenn in arabischen Ländern wie Marokko, Algerien, Libyen, Sudan, Jemen, Libanon, Irak und Syrien – besonders im sogenannten Islamischen Staat (IS) – Eroberungs- oder Bürgerkriege mit insgesamt mehreren Millionen Opfern geführt wurden.
Dass Demonstranten palästinensischer Herkunft sich um Landsleute in Gaza mehr als um andere sorgen, ist gut nachvollziehbar. Dass arabischen und türkischen Muslimen die bedrängte Lage ihrer Glaubensgefährten in Gaza mehr am Herzen liegt als das Los von Christen und Jesiden, die nicht allein durch den IS von Ausrottung bedroht waren, mag verständlich sein, ist jedoch bedauerlich. Und dass Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund daheimblieben, als im sudanesischen Darfur ein Völkermord drohte, und erst in Bewegung kommen, wenn sie einen Genozid in Gaza befürchten, ist noch bedenklicher.
Antisemitische Ressentiments im islamischen Kulturkreis des Orients
Es scheint vielen muslimischen Glaubenseiferern in ihrer Frontstellung gegen Israel gar nicht so sehr um die Lebensbedingungen der Palästinenser zu gehen, sondern viel mehr um die Beherrschung ihrer „heiligen Stätten“ in Jerusalem – im Besonderen um die Alleinherrschaft über den Tempelberg, obwohl der auch den Juden heilig ist und es schon lange vor der Verkündung des Islam war. Doch das hält Muslime nicht davon ab, für sich sozusagen das Erstgeburtsrecht in der abrahamitischen Erbfolge zu beanspruchen. Aus ihrer Sicht sind es die Juden, die vom wahren Glauben ihrer Urväter – der ersten Muslime – abgefallen wären und sich mit Satan verbündet hätten.
Dass es bei Juden kaum mit rechten Dingen zugeht, scheinen auch weniger religiöse Araber zu glauben; denn anders mögen sie es sich nicht erklären, warum die Streitkräfte des kleinen Israel sich wiederholt gegen die Armeen mehrerer arabischer Staaten zugleich durchsetzen konnten und die Israelis auf den kargen Böden ihres Staates blühende Kulturlandschaften schufen, während den Arabern bisher nichts Gleichwertiges gelungen ist. Es ist bekannt, dass die Israelis militärische und finanzielle Mittel vor allem aus den USA erhalten haben; das darf aber nicht über ihre eigenen Fähigkeiten zum effizienten Einsatz aller verfügbaren Mittel hinwegtäuschen.
Antizionistische Vorurteile in linken Kreisen des Occidents
Damit haben wir einen Punkt erreicht, an dem sich islamistische sowie antisemitische Ressentiments mit antizionistischen Vorurteilen berühren und irreligiöse Linke in Europa gemeinsam mit religiösen Eiferern aus dem muslimischen Kulturkreis an Protestdemonstrationen gegen Israel teilnehmen.
Glauben Islamisten aus dem Orient ähnlich wie Faschisten im Occident, dass Juden im Dienste von finsteren Mächten ständen, die insgeheim die Weltherrschaft anstreben, halten linke „Antifaschisten“ sowie Antiimperialisten solche Mächte für klar identifizierbar: Aus ihrer Sicht ist es vor allem der US-Imperialismus, der die Interessen des global agierenden Kapitals wahrnimmt und den Zionismus in seine Dienst gestellt hat, um sich in Palästina eine solide Basis zur Einflussnahme im Orient zu verschaffen. Vor diesem Hintergrund sehen sich viele Linke nicht bloß mit säkular gesinnten Palästinensern, sondern darüber hinaus mit Islamisten aus dem gesamten Orient – von den Mullahs im Iran über die Hisbollah im Libanon bis zur Hamas in Gaza – einig im Kampf gegen den Imperialismus und damit konsequenterweise auch gegen den Zionismus.
Kolonialismus in Palästina
Die antizionistische Argumentation wurde inzwischen verschärft durch postcolonial Studies, durch die der Nachweis erbracht sein soll, das zionistische Ansiedlungsprojekt wäre von den imperialistischen Westmächten dazu benutzt worden, um in Palästina einen jüdischen „Kolonialstaat“ zu gründen. Doch das stimmt nicht ganz, sondern allenfalls partiell, soweit es die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik in den seit 1967 von Israel kontrollierten Gebieten Palästinas betrifft.
Es gibt dort seit 3000 Jahren Juden, deren Existenz sowohl den römischen Imperialismus vor und nach der Christianisierung als auch den arabo- und turkoislamischen Imperialismus überdauert hat. Waren im Laufe der Jahrhunderte arabische Siedler hinzugekommen und siedelten sich in jüngerer Zeit saudi-arabische sowie ägyptische Kolonisten besonders in Gaza an, wie der dortige Hamas-Innenminister von sich gab, kamen seit dem 19. Jahrhundert und vor allem nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland mit zunehmender Zahl Juden auf der Flucht vor dem in Europa grassierenden Antisemitismus nach Palästina.
Die Briten, die nach dem Ende der türkischen Herrschaft im Auftrage des Völkerbundes Palästina verwalteten, hatten einerseits den Juden dort eine nationale Heimstatt zugesagt, wollten andererseits aber Konflikte mit den Arabern vermeiden und versuchten, die Ansiedlung von Juden aus Europa zu unterbinden. Die UNO, die nach dem 2. Weltkrieg an die Stelle des Völkerbundes getreten war, beschloss zwar 1948 die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat, der den Namen Israel erhielt; es gab jedoch einen weiteren Beschluss der UNO, demzufolge keine Waffen nach Palästina geliefert werden sollten. Damals waren es die sozialistischen Ostblockstaaten, die dennoch den Juden dort mit Waffenlieferungen zur Seite eilten, so dass die israelischen Streitkräfte, die zur Vernichtung Israels einmarschierten Armeen der arabischen Nachbarstaaten zurückschlagen konnten. Die Westmächte ergriffen erst später Partei für die Israelis.
Während damals 750.000 Araber aus dem neugeründeten Staat Israel flohen oder vertrieben wurden, waren es umgekehrt 800.000 Juden, die daraufhin aus ihren arabischen Heimatländern vertrieben und in Israel angesiedelt wurden. Dass der Staat Israel vernichtet und Palästina vom Jordan bis ans Mittelmeer vom „zionistischen Joch“ befreit werden müssten, fordern Antizionisten gleich welcher Herkunft, Religion oder Weltanschauung und sprechen sich dafür aus, dass den Familien der Araber, die 1948 vertrieben worden waren, die Rückkehr in ihre Heimatdörfer ermöglicht werden sollte, die jüdischen „Kolonisten“ dagegen nach Europa zurückkehren müssten, als ob alle israelischen Juden von dort stammten und nicht ein großer Teil aus arabischen Ländern.
Unter den antizionistischen Fürsprechern solch einer neuen „Endlösung der Judenfrage“ gibt es auch Deutsche, deren Großväter einst an der Verfolgung und Vernichtung von Millionen Juden direkt oder indirekt beteiligt waren. Glauben die Enkel, dass sie zur Entlastung von deutscher Schuld am damaligen Völkermord dadurch beitragen könnten, dass sie die Nachkommen der einstigen Opfer in der Rolle von Tätern wahrnehmen und diese an einem Genozid in Gaza hindern müssten?
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*Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien aus seiner Feder das Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.
**Dieser Artikel erschien zuerst am 9. November 2023 unter der Überschrift “Der 9. November – Was damals geschah und bis heute weiter geschieht” auf dem Blog von Jürgen Fritz.
Geändertes Titelbild, andere Artikelüberschrift und YouTube-Link von der conservo-Redaktion.